Buchkritik vom 3.8.2016
Seit ihrem Beginn 1876 haben sich die Bayreuther Festspiele zu einem internationalen Event erster Klasse entwickelt – mit Höhen und Tiefen, Glanz und Elend zwischen Kaiserreich, Nazizeit und Nachkriegsdeutschland. Oswald Georg Bauer, ehemaliger Pressesprecher der Festspiele und zugleich rechte Hand Wolfgang Wagners, hat es sich zur Mammutaufgabe gemacht, die Geschichte des Festivals zu dokumentieren. Pünktlich zum Festivalbeginn erschien sein zweibändiges Werk: Auf weit über 1.000 Seiten schlägt es den großen Bogen von den ersten Ideen Wagners für ein eigenes Festspielhaus, über Alt- und Neu-Bayreuth bis hin ins Jahr 2000.
Die umfassende Darstellung einer wechselvollen Geschichte
Das hat es weder vor Richard Wagner noch nach ihm gegeben: Ein Komponist träumt nicht nur von einem gigantischen Musikwerk, sondern auch noch von dem passenden Theater dazu. Über 25 Jahre, seit den ersten Ideen von 1850, sollte es dauern, bis dieser Traum Wirklichkeit wurde: Am 13. August 1876 teilte sich erstmals der Vorhang zum „Rheingold“, dem Vorabend der 16-stündigen „Ring“-Tetralogie – und seitdem sind die Bayreuther Festspiele nicht mehr aus der internationalen Musiklandschaft wegzudenken. Sie haben, positiv wie negativ, musikalisch wie politisch, Geschichte geschrieben. Und diese Geschichte in all ihren Verästelungen hat jetzt, nach über zehnjähriger intensiver Quellenforschung, Oswald Georg Bauer aufgeschrieben.
140 Jahre auf 1.400 Seiten mit siebeneinhalb Kilo
Herausgekommen ist ein enzyklopädischer Wälzer in zwei Bänden, siebeneinhalb Kilo schwer und über 1.400 Seiten stark. Ganz tief ist Bauer in die Archive hinabgestiegen, hat bei den Nachfahren der Künstler und den Wagner-Verbänden in aller Welt recherchiert. Minutiös beschreibt er Jahr für Jahr die Inszenierungen, ihre Sänger und Dirigenten sowie die Aufnahme durch Publikum und Kritik.
Man merkt, dass Bauer von Haus aus Theaterwissenschaftler ist: Mit Akribie und Leidenschaft widmet er sich dieser Aufgabe – bisweilen wäre hier allerdings die straffende Hand eines Lektors durchaus wünschenswert gewesen, so etwa bei dem überlangen Resümee der Ära Siegfried Wagners, des verunsicherten und überforderten Wagner-Sohnes.
Saint-Saens und Tschaikowski zur Ring-Uraufführung
Breitesten Raum nimmt schon die wegweisende Uraufführung der „Ring“-Tetralogie ein. Bauer nutzt hier klug die Augenzeugenberichte der Zeitgenossen wie etwa Camille Saint-Saens oder Peter Tschaikowski. Den Gegenpart dazu bildete die Jahrhundert-Inszenierung von 1976 mit dem französischen Gespann Patrice Chéreau und Pierre Boulez.
Dies liest sich ebenso spannend wie der wahrhaft revolutionäre Neubeginn des Wagner-Enkels Wieland, der 1951 zusammen mit seinem Bruder Wolfgang die Festspielleitung übernommen hatte, oder der kapitalismus-kritische „Tannhäuser“, mit dem 1972 der damalige DDR-Regisseur Götz Friedrich die Grundfesten des ehrwürdigen Festspielhauses erschütterte.
Die Nazis in Bayreuth
Ein Triumph war auch die prachtvolle „Lohengrin“-Inszenierung von 1936, dirigiert von dem eitlen und intriganten, aber eben auch genialischen Wilhelm Furtwängler, mit einem glänzenden Franz Völker als Schwanenritter Lohengrin. Damals hatten die Nazis Bayreuth schon fest im Griff; die resolute neue Chefin Winifred Wagner, Schwiegertochter des Meisters, war mit Adolf Hitler per Du, und der Führer machte die Festspiele zu seinem glänzendsten Propaganda-Instrument.
Diesen politischen Missbrauch beschreibt Bauer ohne Wenn und Aber, genauso kritisch wie zuvor Cosimas Machtbewusstsein, ihren glühenden Antisemitismus und ihre enthusiastische Hinwendung zu deutsch-nationalen Ideen. Ungeschminkt ist auch zu lesen, wie Hitler schon in den 1920er Jahren der rote Teppich in Bayreuth ausgerollt wurde.
Dass unter den Sängern jenes „Lohengrin“ von 1936 diverse glühende Nazis waren, das verschweigt der Autor allerdings. Wie überhaupt Privates sehr diskret ausgeblendet wird, auch wenn es Bayreuths Geschichte beeinflusst hat – so Siegfrieds Homosexualität oder die heiße Liebesaffäre Wielands mit der blutjungen Anja Silja.
Dokumentiert wird auch "Nicht-Künstlerisches"
Neben den Krisen und Krächen, dem permanenten Verschleiß von Dirigenten und den sängerischen Notlösungen hat Bauer jedoch auch ein Auge für Nicht-Künstlerisches: die Klagen über überzogene Festspiel-Preise für Kost und Logis, die Renovierungen des Festspielhauses, die Finanzlöcher und Sonderanleihen, das zwiespältige Wirken der „Gesellschaft der Freunde von Bayreuth“ zwischen Geldbeschaffung und reaktionärer Einflussnahme. Und nicht zuletzt das breite Besucherspektrum zwischen Hochadel und Finanzwelt, Komponisten, Philosophen und eingefleischten Wagnerianern.
Wagnerianer kommen an diesem Kompendium nicht vorbei
Man kann dieses gewaltige Kompendium, an dem kein Wagner-Freund vorbeikommen dürfte, nur in kleineren Portionen genießen. Man kann aber auch die etwa 1.000 Bühnenbilder, Skizzen und Fotos als einen schillernden Spiegel der Festspiel-Ästhetik an sich vorbeiziehen lassen. Bis zum Jahr 2000 reicht Bauers Überblick. – Das Ende einer Epoche markierte Wielands Tod 1966; sein grandioser „Tristan“ von 1962, mit Birgit Nilsson und Wolfgang Windgassen, ist bis heute einer der absoluten Höhepunkte in 140 bewegten Jahren Bayreuther Festspiele geblieben.
Buchkritik vom 3.8.2016 aus der Sendung „SWR2 Cluster“