Eugène Ysaÿe war ein Hexenmeister der Violine – und zugleich mehr als das. Die 5-CD-Box „A Tribute to Ysaÿe“ würdigt jetzt den belgischen Geiger in seiner ganzen Vielfalt als Komponist, Solist, Kammermusiker und Dirigent.
Prüfstein der violinistischen Wahrheit
Eine Geige kommt selten allein. Kompositionen für zwei Soloviolinen sind allerdings die große Ausnahme. Diese „Sonate pour deux violons seuls“ op. posthum von Eugène Ysaÿe wurde im Kriegsjahr 1915 komponiert und verschwand sofort wieder in der Schublade, wo sie erst ein halbes Jahrhundert später von Leonid Kogan entdeckt worden ist. Seither hat sich diese Duo-Sonate unter den Geigerinnen und Geigern einen ganz besonderen Ruf erworben, sie gilt als eine Kostbarkeit und zugleich als ein Prüfstein der violinistischen Wahrheit. Warum?
Kein verziertes Showpiece
Komponiert hat er dieses Werk für sich und für seine königliche Geigenschülerin, Reine Elisabeth von Belgien. Ihr ist das Stück auch gewidmet. Sollte sie es je gespielt haben, muss sie eine großartige Geigerin gewesen sein. Dieses Duo ist „sauschwer“. Aber es ist kein verziertes Showpiece, auf zweistimmige Virtuosität reduziert; vielmehr ein Musterbogen an Tonsatztechniken, orientiert an den Bachschen Solosuiten, mit Kontrapunktik, romantischer Harmonik und sogar einer mehrstimmigen Fuge am Schluss des ersten Satzes.
Vladyslava Luchenko und Jane Hyeon-Jin Cho spielen mit eleganten Kantilenen, langem Bogenstrich und vollem Ton, wie es dem Ysaÿeschen Ideal und der französischen Geigenschule entspricht. Diese beiden jungen Geigerinnen sind Alumni der Musikakademie „Chapelle Musicale Reine Elisabeth“ in Brüssel. Luchenko baut sich gerade eine Karriere als Solistin auf, Cho ist Primaria des Aurora Klavier Quartetts.
Durchwegs hohe musikalische Qualität
Das Besondere an dieser Jubiläums-Edition ist die durchwegs hohe musikalische Qualität. Sie präsentiert eine kluge Mischung. Nicht nur, dass dem hoffnungsvollen Nachwuchs ein roter Teppich ausgerollt wird; es sind auch einige inzwischen berühmte Ex-Alumni beteiligt, außerdem die Brüsseler Philharmoniker und das Orchestre Philharmonique de Liège, sowie externe Gäste und Gastdozenten, darunter Stephane Denève, Francois-Xavier Roth und Augustin Dumay.
Eine Box voller Überraschungen
Ysaÿe war aber weit mehr als nur ein weltweit herumgereichter Hexenmeister der Violine! Er war Komponist und Kammermusiker, Dirigent, Pädagoge und mit vielen Musiker-Kollegen eng vernetzt und befreundet. Das ist die zweite Besonderheit dieser Jubiläums-Edition „A Tribute to Ysaÿe“. Sie präsentiert keineswegs die Best-Off-Werkschau eines Virtuosen. Sie deckt Hintergründe auf. Ein Zeitalter wird besichtigt. Eine Art Netzwerk der spezifisch französischen Avantgarde wird hörbar.
Diese 5-CD-Box „A Tribute to Ysaÿe“ ist erschienen vor zwei Tagen bei dem kleinen Label Fuga Libera, im Vertrieb von Note 1, und sehr empfehlenswert: Eine Box voller Überraschungen.