Buchkritik

Uwe Timm – Alle meine Geister

Stand
Autor/in
Judith Heitkamp (Übernahme vom BR)

Ein Bildungs- und Emanzipationsroman: Uwe Timm erzählt anrührend von seinen Lehrjahren als Kürschner im Hamburg der fünfziger Jahre. Von seltsamen Begegnungen und der Welt der Mode, von besonderen Freundschaften und den Büchern, die sein Leben verändert haben.

„Ich hatte das Glück, in einem Sortierzimmer, wo man allein die Pelzstücke sortierte – da konnte ich für mich lesen, das war ein paradiesischer Zustand,  Stücke zu sortieren und immer ein Buch dabei zu haben.“

Sortieren ist Teil des Kürschner-Handwerks. Und der Kürschner-Lehrling Uwe Timm liebt diese Aufgabe, auch der Spielräume wegen, die sich da bieten, ein ruhiges Tun, schreibt er, „das dem Tagträumen Raum liess.“  Es ist kurz nach dem Krieg, dass die Kürschnerei zum Beruf werden soll, ergibt sich aus dem väterlichen Pelz-Geschäft, das später fast pleite gehen wird. Vom Schreiben ist der 15, 16jährige Timm noch weit entfernt. Von den Geschichten, die er später erzählen wird, nicht.

Eine Kürschner-Lehre in der Nachkriegszeit

Er muss alles aufgesogen haben, die Begegnungen mit dem träumerischen Kürschnermeister Johnny Look oder mit dem gut bezahlten Anarchisten Patkuhl zum Beispiel,  oder die Kundinnen, die Pelzträgerinnen, die nicht nur in ihre Mäntel, sondern auch in ihre Schicksal gehüllt waren. Alle hatten sie mit dem Krieg zu tun und dem Vorher, das ja noch nicht lange her war. Den Titel, sagt Uwe Timm im Gespräch, habe er gleich gewusst: „Alle meine Geister"

Denn er bezeichnet Menschen, die mir begegnet sind, wie sie für mich von Bedeutung sind … und es sind die Bücher … jeder hat seine eigene Form derjenigen, die beschrieben sind.

Benn, Dostojewski, Camus: mit Büchern erwachsen werden

Die – ziemlich chaotischen, wie er selbst sagt - Lektüren des Erwachsenwerdens sind zentral, Benn, Salinger, Dostojewski, Miller, schließlich Camus. Timm stellt seine Erinnerung an die Leseerfahrung des Teenagers und jungen Mannes dem Wiederlesen wichtiger Texte heute gegenüber, destilliert ihre die ganze Biographie mittragende Wirkung heraus.

Jemand empfahl mir ein Buch und diese entscheidenden Bücher für mich kamen von besonderen Menschen. Z. B. Der Fänger im Roggen kam von einem jungen Kürschner, der aufmüpfig war und einfach gekündigt hatte.

„Ich ging zum Hundestrand, wo keine Gebühren verlangt wurden, lag im Sand, so war das geschilderte erträglicher, in dem eingebundenen Buch ‚Der Idiot‘. Gäbe es das Exemplar noch, könnte man auf den Seiten die eingetrockneten Tropfen der Ostsee sehen.“

Das Wiederlesen bringt auch die Situation zurück … es gibt ein paar, ein paar ganz wenige Stellen, da schwächelt die Erinnerung, und ein Name lässt sich nicht fassen, oder das Schicksal einer Person ist verflogen. Das schreibt der Autor dann auch so, bedauernd. Diese eine Näherin, deren Name weg ist, nicht aber jener Abend mit gemeinsamem Warten auf die erste Schneeflocke … 

Egal - Chapeau vor dem phänomenalen Gedächtnis des 1940 Geborenen. Nie hat man den Eindruck, dass es um Renommieren und Name Dropping geht, die Einzelheiten gehören zur Sorgfalt und Genauigkeit, so wie schon damals, als das Kürschner-Handwerk zu erlernen war.

Auch von dem ist in vielen Details die Rede, mit Liebe und Respekt gegenüber der erlernten, fast schon ausgestorbenen Kunst - und mit den Skrupeln, die für uns heute selbstverständlich zum Thema Pelz gehören, die in eine Nachkriegskürschner-Familie aber teils langsam, teils schockartig eindringen. Im Detail spiegelt sich Gesellschaftsgeschichte - an einem Montag steht mit weißer Farbe „Mörder“ auf dem Schaufenster des Timmschen Pelzgeschäfts.

„Die Mutter hat mit meiner Schwester die Farbe abgewaschen. Nach diesem Vorfall wollte sie sofort das Geschäft aufgeben und hatte das Glück, einen Kürschner zu finden, der auch noch 20.000 Mark für die Ablösung der Maschinen und der wenigen Felle und Mäntel zahlte, allerdings ein Jahr darauf verschuldete das Geschäft aufgeben musste. So endeten das Kürschnergeschäft und der Mythos der Selbstständigkeit.“

Das Entstehen eines Blicks auf die Welt

„Alle meine Geister“ versammelt nicht Anekdoten, auch wenn es sich erstmal so anlässt - es beschreibt das Entstehen eines Blicks auf die Welt. Der Uwe Timm, der später Erzähler und Akteur der 68er-Bewegung ist, derjenige, dessen unterstellter Anarchismus Buchhändler und Goethe-Instituts-Leiter beunruhigen wird, der das Skandalon des Kolonialismus in „Morenga“ aufgreift, lange bevor es zum Salonthema wird, – der blickt hier mit offenen Augen in eine erschütterte Nachkriegsgesellschaft. In seinem berühmtesten Buch, Die Erfindung der Currywurst, wird diese wiederzufinden sein. Noch ist er sehr schüchtern, beobachtend, zuvorkommend, zurückhaltend, “über Jahre“ nur Cola trinkend, heißt es, „während um mich herum ausgiebig Bier, Wein und Korn konsumiert wurden“. Er rettet das überschuldete Familienunternehmen, rettet sich ins Lernen und in ein nachgeholtes Abitur, das ihm schließlich das Studieren, die Philosophie und das Schreiben öffnen wird. In „Alle meine Geister" führt er beide Zeiten zusammen, die mit dem Schriftstellerblick zurück, die mit dem ungewissen jungen Blick nach vorn.

Ich bin zur Höflichkeit erzogen worden, aber die findet da ihr Ende, wo man eigentlich widersprechen müsste … und da war ein junger Kürschner Vorbild … beglückend ist.

Alle meine Geister ergibt, zusammen mit den anderen autobiographischen Büchern, so etwas wie den Bildungs- und Emanzipationsroman des Uwe Timm. Der die nächsten Kreise ziehen kann – als wirklich anrührende Leseerfahrung.

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