SWR2 lesenswert Kritik

Stefanie de Velasco – Das Gras auf unserer Seite

Stand
Autor/in
Judith Reinbold

Einen Kinderwunsch hatten Grit, Kessie und Charly nie. Mit Mitte Vierzig aber steht jede der drei Frauen vor einer unerwarteten Herausforderung. Humorvoll beschreibt Stefanie de Velasco in ihrem neuen Roman „Das Gras auf unserer Seite“, wie man sich von gesellschaftlichen Zwängen befreit und eigene Wege geht.

Grit, Kessie und Charly sind Mitte vierzig und ein eingespieltes Team. Keine der drei Freundinnen hat bisher einen Kinderwunsch verspürt. Auch das Modell der monogamen Paarbeziehung beäugen sie misstrauisch. In Stefanie de Velascos „Das Gras auf unserer Seite“ erzählen die drei von einem Monat, der jede von ihnen vor eine Herausforderung stellt: Grit will ein Gartenhäuschen kaufen und ihrer Autorinnenkarriere wieder Schwung verleihen. Kessie muss ihre Mutter im Pflegeheim eingewöhnen und ist dabei auf die Hilfe ihrer Jugendliebe angewiesen. Schauspielerin Charly bekommt die lang ersehnte Hauptrolle, als ihre Periode ausbleibt.

Achtung: Frauen im Gruppenchat

Im Roman erzählen die Frauen von dem, was sie erleben, was sie fühlen oder denken. Zwischendurch gewähren sie Einblick in ihren Gruppenchat „Dogville“. Mal geht es um ihre Hunde, mal erzählen sie von amüsanten Begegnungen oder frustrierenden Erfahrungen. Sie necken oder trösten sich, kommentieren und diskutieren.

Grit: Bist du noch beim Casting?

Charly: Ja war zu spät jetzt lassen die mich bisschen schmoren

Grit: rofl.. ist ja wie beim Zahnarzt

Kessie: Steck das Telefon weg und konzentrier dich.

Die Chatfenster sind in den Fließtext eingewoben und markieren den Wechsel zwischen den drei Erzählperspektiven. Der Chat ist aber nicht der einzige Ort, an dem sich die Freundinnen austauschen, sie treffen sich hin und wieder auch persönlich.

Der Plot ist im Kern recht simple: Drei Freundinnen versuchen, Probleme zu bewältigen, die in unserer Gesellschaft wohl nicht ungewöhnlich sind. Ungewollte Schwangerschaft, Pflegenotstand und finanzielle Sorgen plagen viele. Was den Roman besonders macht, ist die Einstellung der Protagonistinnen und ihre Art, den Herausforderungen entgegenzutreten: Sie sind optimistisch, aber nicht naiv. Statt unaufhörlich nach Schuldigen zu suchen oder in Selbstmitleid zu versinken, schauen sie nach vorn.

Popel essen und sich an Kletterstangen reiben

„[…] Die schreienden Kinder, die Popel essend ihr Geschlecht an Kletterstangen reiben, die milden Väter, die sich über Lastenräder und Schneeanzüge unterhalten. […] alles wirkt wie ein Schauspiel, in dem sie nicht nur sich selbst, sondern dem zufällig beiwohnenden Publikum immer und immer wieder beweisen müssen, wie reflektiert und achtsam sie sind. Sie zielt mit der Bananenschale auf den Mülleimer – Treffer.“

Dieses Wechselspiel von alltäglichen Beobachtungen und gesellschaftskritischer Analyse beherrscht Stefanie de Velasco nahezu perfekt. An wenigen Stellen überspannt sie den Bogen aber etwas. Dann wird sie in ihrem Alltagsrealismus schamlos, etwa wenn Charly ihren Hund beim Toben beobachtet und feststellt, dass…

„(…) zwischen Bubbas Hinterbeinen (…) seine Hoden baumeln, dick und groß wie zwei schwarze Billardkugeln, und wie so oft wundert Charly sich, dass ihm sein riesiges Gehänge beim Toben nicht wehtut.“

Locker, leicht und amüsant – aber ein bisschen überbevölkert

Der Roman liest sich locker und leicht, steckt voller amüsanter Szenen. Und doch zieht die Autorin die Sorgen ihrer Protagonistinnen nie ins Lächerliche. Stefanie de Velascos Roman zeigt: Sorgen und Nöten sind ernst zu nehmen. Doch hilft es nicht, sich von ihnen verängstigen zu lassen: Am besten übersteht man schwierige Zeiten mit Zuversicht, Humor und lieben Freundinnen.

Doch die Lektüre fordert aufmerksames Lesen. Denn de Velascos schreibt so, wie Grit, Kessie und Charly leben: turbulent und sprunghaft. Das Erzähltempo ist hoch und teilweise wirkt der Roman etwas unstrukturiert.

Außerdem steigen wir völlig unvermittelt ins Geschehen ein: Grit auf dem Fahrrad, Kessie im Zug, Charly nach dem Sex im Badezimmer. Wohin die Reise geht oder was zuvor geschah, bleibt unerzählt. Eng getaktet betreten zahlreiche Unbekannte die Bühne: Otto, Wilhelm, Bubba, Vincent, Alice. Es ist beinahe unmöglich, sich all die Namen zu merken.

Davon sollte man sich aber nicht entmutigen lassen: Mit der Zeit werden uns die Figuren vertrauter und man gewöhnt sich an ihre markige Ausdrucksweise. Nach und nach setzen sich die unterschiedlichen Momentaufnahmen wie ein Puzzle zu einem größeren Bild zusammen.

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Judith Reinbold