Reportage

Søren Ulrik Thomsen – Store Kongensgade 23

Stand
Autor/in
Eva Karnofsky

Der dänische Lyriker Søren Ulrik Thomsen hat nur ein Jahr in der „Store Kongensgade 23“ in Kopenhagen gelebt. Fast fünfzig Jahre später schreibt er auf, was ihn noch immer mit dem Haus verbindet. Sein Essay über den Umzug vom Land in die Großstadt und über seine damals schwer depressive Mutter ist eine glänzend formulierte, unaufdringliche Liebeserklärung an die Mutter, aber auch an Kopenhagen. Und eine Abrechnung mit einer unmenschlichen Psychiatrie. Eva Karnofsky hat Søren Ulrik Thomsen in Kopenhagen besucht.

Die Store Kongensgade in Kopenhagens Innenstadt ist eine belebte Straße, mit meist schlichten, mehrstöckigen Häusern. Im Erdgeschoss Geschäfte, Restaurants und Bars, in der Nummer 23 das Büro einer christlichen Kirche. Darüber Apartments mit grünen Fensterrahmen. Hier, im vierten Stock, hat der dänische Lyriker und Essayist Søren Ulrik Thomsen einst mit seiner Familie gelebt.

Fast fünfzig Jahre später hat er einen Essay mit dem Titel Store Kongensgade 23 geschrieben, dessen Beginn er selbst liest, am Esstisch seiner Altbauwohnung, die ebenfalls in der Innenstadt liegt, und ebenfalls im 4. Stock:

Gibt es das eine Jahr oder den einen Ort im Leben eines Menschen, der sich im Lauf der Zeit als der wichtigste erweist? Den Punkt, an dem die Spitze des Zirkels platziert werden kann, weil alles Vorherige traumartig auf ihn hindeutet, und alles Spätere zurück auf dies Zentrum zeigt, dessen Bedeutung man allerdings erst viel später erkennt? Ja, den gibt es, und man braucht nicht lange mit einem anderen Menschen gesprochen haben, ehe man Zeit und Ort jenes seltsamen Brennpunkts im Leben des Betreffenden einkreisen kann. (Lesung Thomsen)

Für Søren Ulrik Thomsen selbst ist dieser seltsame Brennpunkt, auf den die Spitze des Zirkels platziert werden kann, die Store Kongensgade 23.

Das Buch erzählt von einem Jahr in meinem Leben, von 1972 bis 1973. Ich bin in Steuts aufgewachsen, einer sehr ländlichen Gegend. Und als ich sechzehn war, zog meine Familie ins Zentrum von Kopenhagen. Zur gleichen Zeit war meine Mutter sehr krank. Sie hatte eine Depression. So war das eine gefühlsmäßig sehr belastende Periode meines Lebens - meine Mutter krank und gleichzeitig eine Art Schock, vom Land in die Mitte von Kopenhagen verpflanzt zu werden.“ (Søren Ulrik Thomsen)

Die Familie lebte nur ein Jahr lang in der Store Kongensgade, doch sie sollte Thomsen nie wieder loslassen.

“In den letzten fünfzehn Jahren wanderten meine Gedanken immer wieder zu dieser Adresse. Es war so, dass dieses eine Jahr meines Lebens für mich so viel bedeutet wie die gesamten fünfzig Jahre danach.“ (Søren Ulrik Thomsen)

Beschreibungen der Wohnung oder des Hauses sucht man vergeblich in Thomsens Essay und auch konkrete Ereignisse, die sich dort abgespielt haben:

“Es ist eine Mischung: Es wird die Geschichte eines jungen Mannes erzählt, aber auch das Nachdenken eines älteren Mannes über das Leben. Es ist kein Tagebuch, kein persönlicher Brief, sondern ein literarischer Text.“ (Søren Ulrik Thomsen)

Die 28 kurzen Kapitel halten sich zwar an eine grobe Chronologie, werden aber nicht wie ein Roman zusammenhängend erzählt. In jedem Kapitel nimmt Thomsen eine Begegnung, ein Ereignis oder einen Gemütszustand zum Anlass, um über damit verbundene Gefühle und Assoziationen damals und heute nachzudenken:

Mehr als alles andere verbinde ich mit der Store Kongensgade das rauschhafte Gefühl, dass jetzt die Zukunft beginnt, und immer wenn ich die Adresse besuche, erfüllt mich der Anblick des Hauses mit einer intensiven, berauschenden Erwartung einer kommenden Zeit, als verkörperte dieses Haus, in dem ich vor fast fünfzig Jahren gewohnt habe, auf geheimnisvolle Weise den Ort, von dem für immer jegliche Zukunft ausgeht.

Die große Stärke des Buches, die das Lesen zum Genuss macht, ist die sprachliche Dichte und Präzision, mit der Emotionen beschrieben und durchleuchtet werden, und das völlig kitschfrei. Außerdem denkt Thomsen über vieles nach, was auch der Leserschaft nicht fremd sein dürfte. Er bringt beispielsweise das unterschiedliche Lebensgefühl in der Hauptstadt und auf dem Land so auf den Punkt, dass es universell gültig wird:

Unmerklich weicht die Einsamkeit der Erleichterung, allein zu sein und frei von den Blicken, die im Nacken stachen, wenn man durch die Straßen des Provinzstädtchens ging.

Und Thomsen ergänzt im Gespräch:

“Ich war total verliebt in Kopenhagen, in das Gefühl, in einer großen Stadt zu sein. Verliebt in alles – die Hochhäuser, die Hinterhöfe, ich war verliebt in den Verkehr.“ (Søren Ulrik Thomsen)

Und er ist immer noch verliebt in Kopenhagen. Bester Beweis ist ein Fotobuch über vergessene Ecken der Stadt, das er mit einem Kollegen gemacht hat.

Er steht auf, holt es und zeigt es mir. Das Glück darüber, nach Kopenhagen umgezogen zu sein, vermischte sich damals für ihn jedoch mit dem Unglück über die Krankheit der Mutter.

“Sie war in sämtlichen staatlichen Kliniken auf der Insel Seeland. Sie erhielt 35 Elektroschocks und bekam enorme Mengen von Psychopharmaka.“ (Søren Ulrik Thomsen)

Angeregt zu dem Essay hatte ihn einst Peter Handke, der über seine Mutter das Buch „Wunschloses Unglück“ veröffentlicht hatte. Thomsen verschob seinen Plan aber auf die Zeit nach dem Tod der Mutter, da sie nach ihrer Genesung nichts mehr von ihrer Krankheit hören wollte. Dem Autor ist sie umso präsenter:

Ihr Anblick, fürchterlich abgemagert, mit einem verwaschenen, blassroten Krankenhausnachthemd bekleidet, überdreht lachend und mit unnatürlich leuchtenden Augen, wird mir immer in unheimlicher Erinnerung bleiben, denn weit davon entfernt, geheilt zu sein, war sie nach einer Serie von Elektroschocks nun akut manisch.

“Mein Buch ist auch eine Kritik am System der Psychiatrie. Deshalb glaube ich, dass es auch für andere Menschen wichtig sein kann. Wenn ich in Dänemark aus dem Buch lese, kommen viele Menschen auf mich zu und sagen, meiner Mutter ist es genauso ergangen.“ (Søren Ulrik Thomsen)

Noch immer zieht es Thomsen regelmäßig in die Store Kongensgade. Sieben Minuten sind es von seiner heutigen Wohnung mit dem Fahrrad.

Dann setzt er sich in eines der Cafés gegenüber, isst und schaut das Haus an. Er war nur ein einziges Mal wieder drin – am Tag, als sein Buch erschien und die Kritiken in den Zeitungen voll des Lobes waren.

“So fuhr ich zum Haus, verbeugte mich und sagte Danke. Und dann stand die Haustür offen. Dabei ist sie sonst nie offen. Ich ging rein bis in die vierte Etage, wo wir lebten. Und dann ging ich wieder nach unten und sagte Danke, Haus, und ging raus. Es war, als ob das Haus gesagt hätte, okay, du hast ein ganzes Buch über mich geschrieben, dann komm rein.“ (Søren Ulrik Thomsen)

SWR2 lesenswert Magazin Kinzigtal, Kopenhagen & Korea – Literarische Heimaten

Mit Büchern von José F.A. Oliver, Inger-Maria Mahlke, Søren Ulrik Thomsen, Thilo Diefenbach, John Updike und Lauren Groff

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Eva Karnofsky