Die Jury hat erstmals abgestimmt

Buch des Jahres der SWR Bestenliste: „Vierundsiebzig“ von Ronya Othmann

Stand
Autor/in
Carsten Otte
SWR Kultur Literaturkritiker Carsten Otte
Onlinefassung
Katrin Ackermann

Für die 30-köpfige Jury der Literaturkritikerinnen und Literaturkritiker aus dem gesamten deutschsprachigen Raum steht fest: Die Schriftstellerin Ronya Othmann hat mit „Vierundsiebzig“ das Buch des Jahres der SWR Bestenliste 2024 geschrieben. Der erschütternde Roman sei inhaltlich wie literarisch ein herausragendes Werk der „Geschichtsschreibung, teilnehmenden Beobachtung und Genozidforschung“.

Cover des Buches Ronya Othmann: Vierundsiebzig
Ronya Othmann: Vierundsiebzig

Auf dem alljährlichen Treffen der Literaturkritikerinnen und Literaturkritiker in Baden-Baden hat die Jury der SWR Bestenliste den Roman „Vierundsiebzig“ der 1993 in München geborenen Schriftstellerin Ronya Othmann zum Buch des Jahres der SWR Bestenliste 2024 gewählt. Die erstmals vergebene Auszeichnung ist undotiert und wird nach einem zweistufigen Verfahren von den 30 Mitgliedern der Bestenliste-Jury entschieden.

Longlist mit zehn Titeln, die 2024 auf einer Bestenliste standen

Vor der Jury-Sitzung hatten die Kritiker und Kritikerinnen eine Longlist mit zehn Titeln gewählt, auf der neben dem ausgezeichneten Roman von Ronya Othmann Werke von Agi Mishol, Clemens Meyer, Wolf Haas, Reinhard Kaiser-Mühlecker, Paul Lynch, George Saunders, Percival Everett, Marlen Haushofer, Marion Poschmann standen. Voraussetzung für die Wahl auf die Longlist war der Platz auf einer Bestenliste im laufenden Jahr.

Die Jurybegründung – Worte für das Unfassbare

Die Jury der SWR Bestenliste begründete ihre Entscheidung nicht nur mit der thematischen Bedeutung des Romanstoffs, sondern auch mit der literarischen Qualität des Werks:

„Das Volk der Jesiden wird seit Jahrhunderten verfolgt. ‚Vierundsiebzig‘ hat Ronya Othmann deshalb ihren Roman genannt, nach dem 74. Völkermord 2014 durch den sogenannten IS. Die Tochter einer Deutschen und eines jesidisch-kurdischen Vaters will Zeugnis ablegen von diesem Menschheitsverbrechen und ringt zugleich damit, Worte zu finden für das Unfassbare. Ihr Roman ist Geschichtsschreibung, teilnehmende Beobachtung und Genozidforschung zugleich. Die Selbstreflexion der Erzählerin, die angesichts der existentiellen Ausweglosigkeit unentwegt relativiert, reflektiert und revidiert, verleiht dem Werk seine brisante Literarizität. Dafür wird ‚Vierundsiebzig‘ als Buch des Jahres der SWR-Bestenliste 2024 ausgezeichnet.“

Sprachlosigkeit ist „Teil des Textes“

Ronya Othmann schreibt in „Vierundsiebzig“:

Selbst das Aneinanderreihen der Fakten, das Zählen der Toten, selbst das Datum, 3. August 2014, oder 74. Ferman, wie wir Êzîden den Genozid nennen, bleiben ein Platzhalter für etwas, wofür wir keine Worte haben. Die Sprachlosigkeit liegt noch unter der Sprache, selbst wenn ein Text da ist. Die Sprachlosigkeit ist das Unbeschreibliche, und sie ist selbst Teil des Textes. Die Sprachlosigkeit strukturiert den geschriebenen Text, legt seine Grammatik fest, seine Form, seine Worte.

Ronya Othmann, Autorin des Romans „Vierundsiebzig“, steht vor der Preisverleihung des Deutschen Buchpreises 2024 im Römer.
Ronya Othmann wird 1993 in München als Tochter einer deutschen Mutter und eines kurdisch-ezidischen Vaters geboren. „Vor 2014“, so Othmann, „kennt man die Eziden in Deutschland nicht. Wenn ich gefragt werde, sage ich: Wir sind Kurden aus Syrien.“

Eigene Recherchen und Erfahrungen, aber jenseits der Autofiktion

Ronya Othmann wuchs als Tochter eines kurdisch-jesidischen Vaters und einer deutschen Mutter in Bayern auf. Die Familie ihres Vaters stammt aus der Nähe von Tirbespi im kurdischen Siedlungsgebiet in Syrien. In ihrer Kindheit reiste die Schriftstellerin regelmäßig zu den Verwandten in ein jesidisches Dorf im Norden Syriens, das inzwischen nicht mehr existiert.

Schon in ihrem Debütroman „Die Sommer“ hat Othmann die Erfahrungen und Erlebnisse der Familiengeschichte verarbeitet. Auch in ihrem zweiten Roman „Vierundsiebzig“, aus dem Othmann unter anderem auch bei Bachmannwettbewerb in Klagenfurt las, geht sie noch einen Schritt weiter und entwickelt aus einem Konvolut erschütternder Recherchen und Augenzeugenberichten ein literarisches Grundsatzwerk, immer auf der Suche nach einer Sprache für Taten, die sprachlos machen.

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