Buchkritik

Roman Ehrlich – Videotime

Stand
Autor/in
Christoph Schröder

Die Videothek als Sehnsuchtsort: Roman Ehrlichs brillanter Roman „Videotime“ erzählt von Prägungen, der Macht der Fiktion und der Konstruktion von Erinnerung. Unter der Oberfläche einer bayerischen Kleinstadt lauert das Unheimliche.

Es beginnt auf einem Parkplatz vor einer Blechbaracke, in der einst die Träume des Ich-Erzählers von Roman Ehrlichs neuem Roman gelagert waren: „Videotime“, so hieß die Videothek in der bayerischen Kleinstadt, in der der Erzähler aufgewachsen ist.

Dorthin fuhr der Vater in den 1990er-Jahren mit seinen Kindern regelmäßig, um Videokassetten auszuleihen. Mit einem für damalige Verhältnisse großen technischen Aufwand kopierte der Vater die Filme auf Leerkassetten und baute sich im Keller des Mehrfamilienhauses, in dem die Familie lebte, ein illegales Raubkopienarchiv auf, gesichert durch ein Zahlenschloss, dessen Kombination der Erzähler und sein älterer Bruder selbstverständlich herausgefunden hatten.

Parallel zu den Filmen legte der Vater dicke Ordner mit Klarsichthüllen darin an, in denen er schreibmaschinengetippte Beschreibungen der Filme und dazu passende Zeitungsausschnitte sammelte.

Ein geheimes Raubkopienarchiv

Willkommen im prädigitalen Zeitalter, in dem die Videothek mit ihren neonbeleuchteten Gängen als Ort ebenso eine Aura entwickelte wie die Filme selbst in ihrer nicht selbstverständlichen Dauerverfügbarkeit. Roman Ehrlich beschreibt die Bedeutung, die das Medium Video für seinen jungen Erzähler hat, folgendermaßen:

Jede neue Kassette aus der Videothek ist für den Jungen eine Versprechung, dass da noch viel mehr ist auf der weiten Welt als die eine Wirklichkeit, die ihn umgibt. Und dann geht von diesem aufregenden Leben aus dem Filmen auch noch der Reiz des Verbotenen aus. Er schaut ja vor allem Filme, die nicht für sein Alter freigegeben sind, und meint, dass man als einer, der die Prüfung dieses Schauens besteht, mit einer besonderen Macht ausgestattet und dem Leben in der Kleinstadt begegnen kann.

Ein brillanter und überraschender Roman

„Videotime“ ist ein brillanter, überraschender und vor allem unter der Oberfläche einer bundesdeutschen Kleinstadtkindheit und -jugend höchst unheimlicher Roman. Das Buch hat drei Erzählebenen: In der Gegenwart kehrt der erwachsene Ich-Erzähler in seine Heimatstadt zurück, um nach seinem kranken Vater zu sehen, der die Mutter fortgeschickt hat und eine prekäre Außenseiterexistenz führt.

Der erwachsene Mann streift durch die Straßen, und jeder Ort, den er passiert – ein Spielplatz, ein Wohnblock, eine Turnhalle oder eben auch der nun leerstehende „Videotime“-Blechcontainer – lösen bei ihm Erinnerungsschübe aus. Zudem scheint es, als würde sich sein Bewusstsein im Lauf des sehr heißen Tages nach und nach trüben.

Die dritte Erzählebene ist die präzise und auch ausführliche Beschreibung von Filmen, die der Junge einst gesehen hat. Heimlich zumeist, mit Freunden oder auch mit seinem älteren Bruder.

Die Bandbreite reicht von „Die Unendliche Geschichte“ über „Total Recall“ bis hin zu „The Devil in Miss Jones“, einem 1973 gedrehten Arthouse-Porno, der heute ikonisch ist.

Das Staunenswerte an diesem Buch ist die Raffinesse, mit der Roman Ehrlich diese drei Ebenen schlüssig und bis zur Unkenntlichkeit miteinander verschwimmen lässt; so lange, bis das eigentlich unscheinbare Setting eines Aufwachsens in der klassischen bundesrepublikanischen Vater-Mutter-zwei Kinder-Sicherheit in ein diffuses Licht des Dämonischen getaucht ist.

Endloses Tennistraining

Zu dieser Dämonie des Alltags tragen der Vater, ein Kind der Kriegsgeneration, und sein Gebaren in der Familie wesentlich bei: Als Ausbilder bei der Bundeswehr ist er unehrenhaft entlassen worden; nun arbeitet er als Aufseher im Gefängnis.

Seinen älteren Sohn drillt er in endlosen Tennis-Trainingseinheiten so lange, bis er sich verletzt. Seine übergewichtige Frau demütigt er gewohnheitsmäßig; seinen jüngsten Sohn, den übergewichtigen und unsportlichen Ich-Erzähler, straft er mit Missachtung.

Seine Wertmaßstäbe sind unverrückbar; seine Härte ist undurchdringlich. Roman Ehrlich sagt über die Figur des Vaters:

„Diese Unbarmherzigkeit ist ein Erbe der vorangegangenen Vätergeneration. Im Buch wird es auch an einer Stelle explizit gemacht, dass der Vater sozusagen in direkter Linie von der Gewalt abstammt. Er hat eben keinen anderen Zugang als den Militärischen, selbst zu seiner eigenen Familie. Dem Erzähler dämmert irgendwann, dass all die Filme aus der Bibliothek sehr gut zu diesem Zugang gepasst haben; also, dass sie vor allem für Jungs und Männer gemacht waren und dass in ihnen auch ständig ein patriarchales Kräfte- und Machtverhältnis mit aller Gewalt aufrecht erhalten wird."

Ein Roman voller Geheimfächer

Es gibt großartige Szenen in „Videotime“, die man so tatsächlich noch nicht gelesen haben dürfte. Nur ein Beispiel: Als der Ich-Erzähler sein Schulpraktikum bei einem Fernsehtechniker – wo sonst? – absolviert, besteht seine erste Aufgabe darin, eine riesige Menge an Fernbedienungen aufzuschrauben und mit Methylalkohol und Wattestäbchen von dem Schmutz zu befreien, der die Geräte funktionsunfähig gemacht hat: Popel, Nikotin, Hundespeichel, Pfefferminzlikör.

Dieser Roman ist voll von Geheimfächern, verschlossenen Räumen und glatten Oberflächen, unter denen das Unappetitliche lauert. Zugleich ist „Videotime“ auch der Abgesang auf ein Medium, die Hommage an die Gestaltungsmacht kindlicher Fantasie und eine Reflexion über den Entstehungsprozess von Erinnerungen. Roman Ehrlich sagt darüber:

Im Kern des Buches steht die Erkenntnis, dass wir Fiktionen erschaffen, wenn wir uns erinnern, und dass Erinnern deshalb immer auch eine Frage des Glaubens an die fantastischen Gestalten und Ereignisse dieser Fiktion ist.

„Videotime“ gehört zu den Höhepunkten der deutschsprachigen Literatur der vergangenen Jahre. Ein Roman, der auf vielen Ebenen zeigt, welchen Einfluss Prägungen unterschiedlicher Art durch die Jahrzehnte hindurch auf Menschen haben.

Ein indirektes und dennoch scharf gezeichnetes Epochenbild. Und ein Buch, das die Kunst und ihre Wirkmacht ernstnimmt. Im Klappentext steht zu lesen, dass die Familie des Autors nicht mit den Figuren im Roman verwandt sei. Das ist eine beruhigende Nachricht.

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