SWR2 lesenswert Kritik

Paul Brodowsky – Väter

Stand
Autor/in
Michael Kuhlmann

Vater sein – das ist heute etwas ganz anderes als vor vierzig oder siebzig Jahren. Es ist aber keineswegs einfacher geworden. Heutige Väter sind zugleich geprägt davon, was sie mit ihren Vätern erlebt haben, einer autoritär erzogenen Nachkriegsgeneration. Der 1980 in Kiel geborene Theaterautor Paul Brodowsky verarbeitet seine Erfahrungen als Sohn und als Vater nun in seinem Debütroman.

Suhrkamp Verlag, 304 Seiten, 24 Euro
ISBN 978-3-518-43103-0

Der 1980 geborene Paul Brodowsky ist vor allem fürs Theater tätig und seit gut zehn Jahren „Hausautor" am Theater Freiburg. Er arbeitete bei einer Literaturzeitschrift und einem Literaturfestival mit, schrieb Hörspiele und erhielt zahlreiche Auszeichnungen. Jetzt ist sein erster Roman erschienen: „Väter" – Michael Kuhlmann.

Dieser Roman ist ein Stück Autobiographie und zugleich ein Werkstattbericht über sein Entstehen. Der Ich-Erzähler Paul, Anfang vierzig, ist Familienvater. Offenkundig die fiktionalisierte Form des Romanautors selbst. Zwei Kinder im frühen Schulalter, beide Eltern arbeiten Vollzeit, Paul selbst als freiberuflicher Autor. Paul will für sein neues Buchprojekt etwas über sich selbst herausfinden – genauer: Wie haben ihn diejenigen Erfahrungen indirekt geprägt, die sein eigener Vater als Jugendlicher machen musste?

Der Vater namens August ist Jahrgang 1933, wurde autoritär erzogen, war erfolgreicher Wissenschaftler. 2013 hat Paul ihn systematisch interviewt; und auf der Basis dieser Interviews und seiner eigenen Erinnerungen entsteht das Bild einer konservativen, leistungsorientierten Familie in der Bundesrepublik der achtziger und der neunziger Jahre. Eng damit verwoben sind die Blicke in Pauls eigene Familie: Der Alltag ist hektisch, ein ständiger Spagat zwischen beruflichen und familiären Pflichten, und das Leben in der Großstadt mit den weiten Wegen zu Arbeit, Schule, Kita und Supermarkt macht es nicht leichter. Paul versucht in dieser Epoche, in der Patentrezepte für Väter nicht mehr funktionieren, seine Rolle zu finden.

Als Erzieher seiner Kinder Milan und Anouk setzt Paul auf Einsicht. Das funktioniert allerdings nicht. Aber Paul will gerade nicht so sein wie sein eigener Vater: August war autoritär, auch gewalttätig; eine Beziehung zu seinem Sohn konnte er nicht aufbauen.

Doch tief in seinem Inneren favorisiert auch Paul die väterlichen Werte Pflichtbewusstsein, Rationalismus und Effizienz. So sehr es ihm zuwider sein mag. Paul findet dafür das Bild eines riesenhaften unterirdischen Pilzes, der von Holstein bis zu den Alpen reicht, der unter jedem unserer Schritte liege und der sich bis in unsere Gehirne ausgebreitet habe: das geistige Erbe nicht nur der NS-Epoche, sondern schon des wilhelminischen Zeitalters.

Paul Borodowsky beschreibt alldas abgeklärt, durchgehend im Präsens; die Szenen seiner Familie schildert er geradezu in Chronistenmanier. Nicht zornig und auch keineswegs in Form einer egozentrierten Nabelschau – sondern er wirft ein Thema auf, das viele Väter beschäftigen wird: Wie soll man als Vater agieren, wenn ein kooperativer Ansatz offenbar versagt: weil er Kinder verunsichert und sie schließlich überfordert?

In der Hand hat man nun eben jenes Buch, das zu verfassen die Romanfigur Paul sich vorgenommen hatte. In realistischen Bildern und schnell wechselnden Szenen aus Gegenwart und Vergangenheit erzählt es von zwei Generationen und ihren geistigen Altlasten. Ein Stück weit sind es typisch deutsche Altlasten: aus einem Land, in dem die Menschen sich nur ein einziges Mal – 1989 – wirklich aus eigener Kraft und mit einem Schlag von autoritären Strukturen in Staat und Gesellschaft trennen wollten. Einem Land, in dem – wie man sich bei der Lektüre erinnert – selbst die demokratisch gewählten Kanzler Helmut Kohl und Gerhard Schröder den autoritären Antidemokraten Bismarck bewunderten. Die Figuren des Romans bleiben dabei nicht in Stereotypen hängen: Auch Vater August offenbart in einem raren Moment, in dem es mal nicht um Leistung und Karriere geht, eine überraschend liberale und tolerante Seite. Paul allerdings kann aus alledem keine umfassende Lösung seiner Probleme als Vater ableiten. So liefert dieser Roman lediglich – aber immerhin – Denkanstöße. Nicht nur für heutige überforderte Väter, sondern auch für Mütter und für alle heute Vierzig- bis Fünfzigjährige, die über ihr Verhältnis zur Elterngeneration nachgrübeln. Und eigentlich sollten sie nach der Lektüre diesen Roman in ihrem Bücherregal hüten. Denn auch die Generation der heutigen Jugendlichen könnte um das Jahr 2040 herum anhand des Buches der Frage nachspüren, warum sie denn so aufgewachsen ist in diesen zwanziger Jahren. Und 2060 könnte das Buch die Alltagshistoriker interessieren: mit seinen höchst realistischen Szenen einer jungen Familie anno 2023.

Stand
Autor/in
Michael Kuhlmann