600 Seiten – garantiert ohne Corona. Michel Houellebecqs neuer Roman „Vernichten“ schildert die Welt des Jahres 2027, die allerdings viele vertraute Probleme kennt: Wahlkampf, Terrorismus, Familienstreit, Begehren, Alter und die Gesamt-Gebrechlichkeit des Lebens.
Frankreich in naher Zukunft – erschüttert durch Terroranschläge
„Vernichten“ spielt in naher Zukunft, im französischen Wahljahr 2027. Dennoch bietet der Roman keine spektakuläre satirische Zukunftsvision wie Houellebecqs vor sieben Jahren erschienener Roman „Unterwerfung“ über die Herrschaft eines gemäßigten Islamismus in Frankreich.
Paul Raison heißt die Hauptfigur. „Raison“ steht für Verstand und Vernunft. Der Endvierziger ist Finanzexperte; als Spitzenbeamter arbeitet er im Kabinett des Wirtschaftsministers Bruno Juge. Auf der anderen Seite ist er wie noch jeder Houellebecq-Held ein Inbild gebrochener Männlichkeit, ein Mensch im Gefängnis des Begehrens, mit abgründigen Ahnungen und dunklen, beinahe kafkesken Träumen, die regelmäßig die Handlung unterbrechen.
Der Roman beginnt mit den mysteriösen Attacken von Cyber-Terroristen. Sie betreffen auch Pauls Chef Bruno Juge, der virtuell guillotiniert wird.
Während einer der beiden Männer den Minister dazu brachte, sich hinzuknien, seinen Kopf in der Lünette platzierte und dann den Schließmechanismus betätigte, befestigte der zweite das Beil am Rammbock, dem schweren Eisenblock, der der herabfallenden Klinge Stabilität verleihen sollte. (aus: Michel Houellebecq - Vernichtung)
Bald folgen schwere Anschläge mit Menschenopfern. Wer steht hinter dieser neuen Weltbedrohung, die der Roman beschwört? Paul und die Geheimdienst-Experten rätseln über die Zusammenhänge. Das Torpedieren von Containerschiffen könnte auf linke Globalisierungskritiker schließen lassen, der Anschlag auf einen Weltmarktführer im Handel mit menschlichen Spermien auf religiöse Fundamentalisten. Eine Schnittmenge fände sich womöglich bei radikalen Antinatalisten und Öko-Faschisten, nach deren Ideologie nur das Auslöschen der Menschheit den Planeten Erde noch retten könne.
Die Familiengeschichte des Helden drängt sich in den Vordergrund
Allerdings rückt dieser Strang des Romans bald in den Hintergrund. „Vernichten“ entwickelt sich stattdessen zum komplexen Familienroman, als Paul eine Nachricht auf dem Handy bekommt:
Sie stammte von Madeleine, der Lebensgefährtin seines Vaters… Die Nachricht war in Teilen unverständlich, unterbrochen von Schluchzen und mit starkem Verkehrslärm im Hintergrund. Dennoch verstand Paul, dass sein Vater im Koma lag und man ihn ins Krankenhaus Saint-Luc in Lyon gebracht hatte. (aus: Michel Houellebecq - Vernichtung)
Pauls Vater, der selbst als hoher ehemaliger Geheimdienst-Beamter Kenntnisse über die Verschwörung zu haben scheint, wird nach einem schweren Hirninfarkt zum Pflegefall. Familienmitglieder, die sich aus den Augen verloren haben, müssen plötzlich kooperieren. Am Stammsitz der Familie in der lieblichen Beaujolais-Region trifft sich Paul mit seiner katholisch frömmelnden Schwester Cécile und seinem unglücklichen jüngeren Bruder Aurélien, der tyrannisiert wird von seiner Ehefrau Indy, die Houellebecq als Karikatur einer boshaften Haltungsjournalistin darstellt. Bald gibt es Streit um Entscheidungen und Vermögen.
Als der Vater nach einer Intrige zwangsweise aus der Abteilung für Wachkoma-Patienten in ein Pflegeheim verlegt wird, wo Rohheit und Vernachlässigung herrschen, nehmen die Geschwister Kontakt zu einer Organisation auf, die auf die Rettung und Entführung von Heimbewohnern aus den Fängen der Pflegemafia spezialisiert ist. Offenbar hat sich die Absonderung und Verwahrung der Alten im Jahr 2027 noch deutlich verschlimmert, was Houellebecq durch Äußerungen seiner Figuren aber allenfalls andeutet.
„Diese Heime haben einen schlechten Ruf, und das ist alles andere als unbegründet, im Großen und Ganzen sind das wirklich scheußliche Sterbeanstalten… Nach meiner Meinung sind diese Pflegeheime einer der größten Schandflecken des französischen Gesundheitssystems.“ (aus: Michel Houellebecq - Vernichtung)
Auch die Hintergründe der Terrorattacken werden nicht aufgeklärt; ihre Muster führen ins Dämonisch-Okkulte. Solch mutwillige Verrätselung verschafft dem Roman zwar zunächst Spannung. Eine Auflösung des kühn begonnenen Plots ist irgendwann allerdings nicht mehr möglich, ohne ganz ins Phantastische abzugleiten, was nicht Houellebecqs Sache ist. So verendet dieser Handlungsstrang eher als dass er zu einem überzeugenden Finale geführt würde. Verschmerzen lässt sich diese Schwäche deshalb, weil der Roman ein anderes Gravitationszentrum hat: die Motive der Krankheit und Hinfälligkeit.
Letztlich geht es um den Daseins-Kampf des Individuums
So sind die letzten hundert Seiten wieder ganz Paul gewidmet, der schwer an Mund- und Zungenkrebs erkrankt und sich statt für eine martialische Operation für den Tod entscheidet. Es ist eine Angstvision des starken Rauchers Houellebecq, die mit exakter medizinischer Recherche unterfüttert und mit bitteren Aphorismen angereichert ist.
Das menschliche Leben besteht aus einer Abfolge administrativer und technischer Schwierigkeiten, unterbrochen von medizinischen Problemen; mit dem Alter treten die medizinischen Gesichtspunkte in den Vordergrund. (aus: Michel Houellebecq - Vernichtung)
Houellebecqs Werke erregen Aufsehen dank der Sprengkraft ihrer gesellschaftlichen Analysen – in ihrem Mittelpunkt stehen jedoch seit dem Debütroman „Ausweitung der Kampfzone“ das Leiden und der Schmerz des Individuums. Dazu gehört die tendenzielle Unerfüllbarkeit des Begehrens. Pauls Frau heißt Prudence (eine Hommage auf den Beatles-Song „Dear Prudence“), und auch sie arbeitet als Finanzinspektorin. Sinnbild ihrer Ehe ist der Kühlschrank, in dem sogar die Fächer getrennt sind. Obwohl sie sich eine schöne Pariser Wohnung teilen, sind sie sich jahrelang kaum noch begegnet. Hier ist Houellebecq wieder bei seinem großen Thema: der schieren Unmöglichkeit der Liebe in der modernen, liberalisierten Welt. Um dann doch die – erst ganz behutsame, bald aber auch sexuell Fahrt aufnehmende – Wiedervereinigung des Paars bis in Pauls letzte Lebenswochen zu inszenieren. Der Desillusionist Houellebecq wechselt die Maske und gibt sich fast als Romantiker zu erkennen:
Sie liebten sich jetzt jeden Morgen (…), es erfüllte sie mit ungeheuren Glücksgefühlen. Prudence ging es sichtlich besser, körperlich besser. Er verstand jetzt die Bedeutung des Begriffs „eheliche Pflicht“ und fand ihn nicht vollkommen lächerlich. (aus: Michel Houellebecq - Vernichtung)
„Vernichtung“ ist kein auf Provokation getrimmtes Buch
Auch wenn Houellebecqs sarkastischer Scharfsinn in vielen Reflexionen zur Geltung kommt – „Vernichten“ ist kein auf Provokation getrimmtes Buch. Es ist der bisher ruhigste Roman des Autors, geprägt von einer tiefen Melancholie. Die meisten der Gespräche, etwa wenn im Team des Ministers Bruno Juge über Wahlkampfstrategien oder die starke Verflechtung der medialen mit der politischen Sphäre debattiert wird, sind ungeachtet der Bezüge zur aktuellen französischen Politik unter Emmanuel Macron und Bruno Le Maire wenig spektakulär, ja verbreiten bisweilen fast eine höhere Langeweile. Immer aber, wenn Houellebecq den Schmerzzentren seiner Figuren nahe kommt, schreibt er eine sensible Prosa mit starken lebensphilosophischen Qualitäten.
Wir lesen das Spätwerk eines Schriftstellers, der den Kampfzonen schließlich den Rücken kehrt. Und am Ende, als wär’s ein Lied der Beatles, die Liebe besingt.