In seiner Geschichte Frankreichs fragt der Historiker Matthias Waechter nach deren Leitmotiven. Nach dem monarchischen Prinzip setzte sich ab 1870 der republikanische Gedanke durch. Die Geschichte Frankreichs erscheint in der Darstellung Matthias Waechters als ständiges Ringen um die Legitimität politischer Herrschaft.
Der Schluss seines Buches über die Geschichte Frankreichs klingt optimistischer als die letzten Sätze seiner vor vier Jahren erschienenen sehr detaillierten Studie über Frankreichs Geschichte im 19. Jahrhundert: Dort äußerte Matthias Waechter Zweifel daran, ob es Frankreich gelingen werde, seine tief gespaltene Gesellschaft zu vereinen, während am Ende der jüngst in der Reihe ‘Wissen‘ des Beck-Verlags erschienenen Überblicksdarstellung die Hoffnung des Autors zu überwiegen scheint, dass Frankreich seine Zukunft in und mit Europa sieht.
Nur auf den ersten Blick sind dies zwei unterschiedliche Themenbereiche – dass und wie das eine mit dem anderen zusammenhängt, zeigt der Autor in seinem jüngst erschienenen Buch in komprimierter und klarer Form: In neun Kapiteln macht er deutlich, wie es zur Bildung einer französischen Nation und zu der vielzitierten exception française kam. Diese Besonderheit der französischen Nationalgeschichte, die fest im französischen Selbstbild verankert ist, besteht in der über Jahrhunderte gewachsenen Überzeugung, dass die französische Nation mit ihrer Begründung auf Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit anders als andere Nationen eine universale Geltung beanspruchen könne – eine Überzeugung, deren Hochzeit in den Jahren zwischen 1789 und 1870 lag, weshalb Matthias Waechter dem Zeitalter der Revolutionen das ausführlichste Kapitel gewidmet hat. Zurecht, denn Paris war in der Tat – wie es der deutsche Philosoph Walter Benjamin ausdrückte – die „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“ und Frankreich in dieser Zeit das Laboratorium einer Moderne, die auf der Suche nach sich selbst war.
Dabei weist Matthias Waechter auf Aspekte hin, die in den aktuellen Debatten um den Umgang mit dem kolonialistischen Erbe allzu leicht vergessen werden: Im Gegensatz zu den deutschen Befürwortern des Kolonialismus, die zumeist aus der rassistischen und pandeutschen extremen Rechten kamen, gehörten die französischen Befürworter einer Kolonisierung zur republikanischen Linken: Jemand wie Jules Ferry sah in der Besiedlung ferner Kontinente eine Pflicht der zivilisatorischen Sendung Frankreichs. Matthias Waechter lässt keinen Zweifel daran, dass auch ein solcher Missionsgedanke nicht gegen rassistische Menschenbilder gefeit war – aber er speiste sich eben aus den Quellen der französischen Aufklärung und nicht aus denen des Ressentiments gegen alles, was prinzipiell als fremd gilt.
Es gehört zu den Stärken dieses Buches, dass es die Selbstwidersprüche eines solchen Sendungsgedankens ebenso wenig ignoriert wie die gesellschaftlichen Kontroversen um nationale Identität und die Fragen der aus ihr resultierenden Selbst- und Fremdbilder. Letztere verknüpft der Autor sehr anschaulich mit den Debatten um die Legitimität politischer Herrschaft, die seit dem 18. Jahrhundert in Frankreich entweder mit dem Verweis auf die galloromanischen Ursprünge oder unter Berufung auf die fränkisch-karolingische Tradition geführt wurden. Warum dieser Ursprungsstreit während der 1870 gegründeten III. Republik eine besondere Rolle spielte und weshalb er zu enormen gesellschaftlichen Spannungen führte, die sich nicht zuletzt in der Dreyfus-Affäre äußerten, erläutert der Autor überzeugend unter der Überschrift «Nation-building» in Frankreich. Hier geht es auch – fast möchte man sagen: naturgemäß – um die komplexen Beziehungen zum östlichen Nachbarn Deutschland, an denen die von Matthias Waechter als „unvollendet“ charakterisierte Dritte Republik schließlich scheitern sollte und die erst in einem vereinten Europa entschärft werden konnten.
Wem die französische Geschichte nicht ganz fremd ist, der wird – und das ist dem Überblicksformat des Buchs geschuldet – den einen Aspekt oder den anderen Namen vermissen: Der gerade für die deutsch-französischen Beziehungen so wichtige Jean Jaurès wird nicht erwähnt ebenso wie Léon Gambetta, der manchen als der eigentliche Gestalter der Dritten Republik gilt. Aber dies ändert nichts daran, dass sich dieses mit souveräner Leichtigkeit geschriebene Buch ganz besonders eignet, deutschen Leserinnen und Lesern ein anschauliches Bild des oftmals so nahen und bisweilen auch fremden Nachbarn Frankreich zu vermitteln.
C. H. Beck Verlag, 127 Seiten, 12 Euro
ISBN 978-3-406-73653-7