Einst war die schöne Rivi Grinberg die Geliebte mächtiger Männer. Nun ist sie 69 und soll aus ihrem Haus vertrieben werden. Rivi bilanziert ihr Leben und spiegelt darin die moderne Gesellschaft Israels, Rassismus und Frauenverachtung, Gewalt, existentielle Unsicherheit und den Schatten des Holocaust. „Nur nicht zu den Löwen" ist ein moderner Briefroman, der tief berührt.
Eine Frau steht am Fenster und schaut hinaus, als suche sie ihre verlorenen Hoffnungen. Doch Rivi Grinberg, 69, wartet nicht, wie einst ihre Mutter, auf den vermissten Verlobten, sondern auf Bagger, die ihr Haus abreißen und sie vertreiben werden. Odelia, eine junge Nachbarin, als Software-Entwicklerin eine Vertreterin der neuen Zeit, treibt dieses Stadterneuerungsprojekt voran. Aber Rivi hat Angst vor Neuem. Ihre Wohnung ist ein Museum der Erinnerung. Ihr Widerstand gegen die Zerstörung ist das Erzählen. Lange hat sie geschwiegen, wie früher die Eltern, nun redet sie.
Ein Briefroman mit vielen Adressaten
„Wir Alten sind dazu bestimmt, Geschichten zu erzählen“, gesteht sie zu Beginn dieses Briefromans mit vielen Adressaten, meist ohne Antwort. In flapsigen Monologen, in Mails und WhatsApp-Nachrichten, in den sechs Tagen und Nächten bis zum Abriss, bilanziert Rivi Grinfeld die Tragödie ihres Lebens aus Missbrauch, Demütigungen und Verletzungen: ihre Kindheit in Israel, im Schatten des Holocaust, mit den Eltern, die der Shoa entkommen waren; dem traumatisierten Vater, der zusehen musste, wie seine erste Familie ermordet wurde, und der Rivi immer Rejsele nennt, wie seine tote erste Tochter; mit der Mutter, die ein Leben lang um den Liebsten trauert; und mit Sonja, der Nachbarin mit dem Kinderwagen, die den Puppen darin die Augen aussticht, damit sie die Toten der Shoa nicht sehen.
Holocaust und heutiges Israel
Schon mit einem solch eindringlichen Bild öffnet Lizzie Doron einen ganzen Kosmos an Schicksalen, Konflikten und Schmerz. Indem Rivi ihr Leben erzählt, entfaltet sie ein Panorama des modernen Israel und seiner widerstreitenden Kräfte, von Siedlern, Orthodoxen und Liberalen, Juden, Arabern und Palästinensern. Es ist ein Bild von Rassismus und Gewalt, von der unantastbaren Armee, von Israels Besatzungs- und Siedlungspolitik und dem Glauben an einen starken Staat; Zugleich ist es ein Bild von Misogynie und Generationskonflikten und vom Trauma des Holocaust, ein Lebensthema Lizzie Dorons, die in einer Jiddisch sprechenden Gemeinde von Überlebenden in Tel Aviv aufwuchs und vor der Last der Vergangenheit in einen Kibbuz floh.
Die Vergangenheit ist niemals wirklich vergangen
„Großer Gott, wusstest du, dass die Vergangenheit niemals … aus und vorbei ist?“, fragt ihre Erzählerin Rivi, ihr Körper erinnert sich, Traumata werden genetisch vererbt. „Nur nicht zu den Löwen“, hatte Rivis Vater beim Zoobesuch gesagt, aber sie blieb bei den Löwen, und gemeint sind nicht nur Tiere. Löwen stehen für den Männlichkeitskult. Ein Löwe ist das Wappentier des umkämpften Jerusalem. Löwen sind Offiziere wie Arik, ein Kommandeur der Armee, der sie – die schönste Soldatin der Kompanie – einst entjungferte; oder wie Michael, der Chefredakteur, für den sie nur eine von vielen Geliebten war. „Schönheit ist ein Spielzeug für viele“, erkennt sie und weiß: Es „ist nicht einfach, all diesen Erinnerungen standzuhalten“.
Bewundernswert, mit wieviel Lakonie und Selbstironie Lizzie Doron, im Ton einer WhatsApp-Nachricht, schwere Themen einfängt. Berührend, wie sie das Leben der einst berühmten und schönen, jetzt einsamen Rivi beschreibt. Eine wahre Geschichte, die sich vor dem Hamas-Angriff im Oktober noch als MeToo-Geschichte las. Nun, mit dem neuen Krieg, bekommt die Lektüre eine zweite Tiefe: Heute wissen wir, die Armee, die im Roman noch als unbesiegbar gilt, ist verwundbar. Nicht nur Rivis Haus wird zerstört, auch das Haus Israel, das Land, das Schutz versprach, ist verletzlich und braucht selber Schutz.
Aber worin besteht künftig Israels Rolle mit seiner diversen, polarisierten Gesellschaft, wenn nicht in seiner Funktion als Zuflucht für die Juden der Welt, fragt Lizzie Doron heute und sucht einen Schutzschirm gemeinsamer Werte. Ihr Roman deutet Verständigung an. Rivi nähert sich der jungen Nachbarin Odelia, die sich als Enkelin der verwirrten Sonja erweist. Auch Sabre sind vom Holocaust gezeichnet, die in Israel Geborenen. Also auch Rivi mit ihrer obsessiven Erinnerungsarbeit und die junge selbstbewusste Odelia mit aller Ungewissheit des Aufbruchs. Zwei Frauen, zwei Generationen, die einen Weg in die Zukunft suchen – nicht nur in Israel. Unbedingt lesenswert!