Die Welt, gesehen aus den Augen eines Kindes: In ihrem fulminanten Debütroman erzählt die Kärntnerin Julia Jost vom Aufwachsen auf dem Dorf, vom Aufstieg eines Provinzpolitikers und von historischen Kontinuitäten, die bis in die Gegenwart wirken. Der Titel ist in jedem Fall Programm: „Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht“!
Manchmal bedarf es nur einer kleinen Perspektivverschiebung, um die Welt genauer sehen zu können. Die Ich-Erzählerin von Julia Josts Debütroman liegt unter einem Lastwagen und schaut sich das Geschehen um sie herum von unten an. Währenddessen zählt ihre Freundin Luca von Hundert auf Null herunter. Das Spiel heißt „Verstecken“, doch tatsächlich wird in diesem Buch viel von dem sichtbar, was über einen langen Zeitraum hinweg verborgen wurde. Es ist das Jahr 1994, und die Ich-Erzählerin ist elf Jahre alt. Julia Jost gibt ihrer Protagonistin bewusst keinen Namen, streng genommen noch nicht einmal ein Geschlecht, bloß den Anfangsbuchstaben J., doch anhand des Umstandes, dass ihre Eltern sie permanent und gegen ihren Willen in Mädchenkleider stecken möchten, darf man eine vorsichtige Zuordnung wagen.
Unter dem LKW liegen und die Welt betrachten
Da liegt sie also unter dem LKW und sieht die Welt knieabwärts. Der Lastwagen steht auf dem Hof ihrer Eltern und gehört einem Umzugsunternehmen. Der Vater hat mit seiner Firma viel Geld verdient; nun kann die Familie sich den vor allem von der Mutter lang ersehnten Umzug in die Stadt leisten. Ein sozialer Aufstieg, fort aus der Kärntner Provinz, fort vom Gratschbacher Hof, von den Jagdvereinen und Wirtshausgesellschaften, weg von jenem Ort, „Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht“. Der Preis für den besten Titel der Saison dürfte Julia Josts Roman sicher sein. Doch nicht nur der: Es ist ein sprachlich wuchtiges, reich orchestriertes und mitreißendes Buch, das der Kärntner Schriftstellerin gelungen ist.
Von ihrem Platz unter dem Lastwagen aus sieht die Erzählerin noch einmal die Bevölkerung des Dorfes vorbeiziehen. Die unmittelbaren Eindrücke sind immer wieder verknüpft mit weiten Erinnerungsbögen, die bis in die Zeit des Nationalsozialismus zurückreichen. Zugegeben: Weder der sprachliche Furor noch das historische Hintergrundwissen entsprechen dem Horizont einer Elfjährigen. Julia Jost hat, um die kindliche Perspektive aufzubrechen, zwischen ihre Hauptfigur und den Text eine reflektierende Erzählinstanz geschaltet. Technisch geht das nicht ganz sauber auf, aber es ist ungemein wirkungsvoll.
Anti-Heimatroman klassisch österreichischer Prägung
So reihen sich Geschichten an Geschichten, die sich zu einem Anti-Heimatroman klassisch österreichischer Prägung verbinden. Da ist eine tödliche Mutprobe unter Kindern, bei der der aus der Stadt zugezogene Franzi in einen Brunnen und unglücklicherweise in ein zuvor abhanden gekommenes Messer mit der Gravur „Meine Ehre heißt Treue“ hineinfällt. Da ist die Stubenhofoma, die Großmutter der Erzählerin, die noch heute stolz erzählt, dass in Kärnten 99,83 Prozent der Bevölkerung seinerzeit für den Anschluss an das Deutsche Reich votiert hätten. Und da ist Gernot Pfandl, der fesche Feuerwehrhauptmann mit dem Schmiss im Gesicht, der seinerzeit den kleinen Franzi aus dem Brunnen gezogen hat. Pfandl ist eine besondere Figur; ein politischer Aufsteiger, der den Stammtisch beherrscht. Erst wird er zum Dorfbürgermeister gewählt; dann zieht es ihn weiter in die große Politik, wo er zum Star einer aufstrebenden Rechtsaußen-Partei wird. Pfandl ist in seiner Anlage eindeutig an den zu dieser Zeit aufstrebenden Jörg Haider angelehnt. Thomas, der ältere Bruder der Ich-Erzählerin, wird später zu Pfandls Chauffeur.
Sprachkunstwerk in Umgangssprache und Dialekt
Es ist ein Aufwachsen im Waldheim-Österreich, das hier in einer nur auf den ersten Blick urwüchsig anmutenden Sprache beschrieben wird. Tatsächlich aber ist der hypotaktische Sound, die Mischung aus Umgangssprache und dialektalen Einsprengseln, sorgfältig hergestellt. Er verleiht dem Roman Atmosphäre und Musikalität zugleich. In diesem Sprechen werden althergebrachte Ordnungsvorstellungen aufgesprengt. „Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht“ ist auch die Geschichte einer queeren Emanzipation, denn zwischen der Ich-Erzählerin und der gleichaltrigen Luca bahnt sich früh etwas an, das weit über eine Freundschaft hinausgeht. Julia Jost hat mit ihrem Debüt den Anti-Heimatroman auf den aktuellen Stand gebracht.
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