Die Geschichte einer fragilen Liebe, die Geschichte einer Familie mit vielen Herkünften, von hinten nach vorn erzählt – auch in ihrem fünften Roman spiegelt die in Siebenbürgen geborene Iris Wolff die Zeitgeschichte Südosteuropas im Höchstpersönlichen.
Was verbindet die Straßenmalerin Kato und ihren Reisegefährten Lev? Warum haben die zwei einander fünf Jahre lang nicht gesehen, bevor sie ihn nach Zürich zitiert hat mit einer Postkarte, auf der nur drei Worte standen: „Wann kommst du?“ Und wohin muss er nun zurück, nach einem gemeinsamen Sommer des Unterwegsseins in mediterranen Gefilden? Welche Geschichte teilen diese beiden Leute Mitte, Ende dreißig? Was ist zuvor geschehen?
Fragen wie diese ziehen während der Lektüre immer wieder soghaft hinein in das Buch. „Lichtungen“, so heißt Iris Wolffs neuer Roman, beginnt in der Gegenwart und entführt mehr als drei Jahrzehnte in die Vergangenheit – ganz buchstäblich: Iris Wolff erzählt nämlich rückwärts, in Episoden, die jeweils einige Jahre länger zurückliegen. Logischerweise beginnt sie mit Kapitel „Neun“ und endet mit Kapitel „Eins“.
Eine Mischung aus der Maramuresch
Lev und Kato, stellt sich heraus, stammen aus der Maramuresch, einem waldreichen Landstrich im Norden Rumäniens nahe der ungarischen Grenze, in dem unterschiedliche Sprachen und Herkünfte zuweilen in gemischten Familien zusammenkommen.
Die Bevölkerungsgruppen konkurrieren um ihren Status in dörflichen und städtischen Gesellschaften, deren historische Bausubstanz zerfällt, deren katholische, protestantische und orthodoxe Kirchen nur mühsam in Schuss gehalten werden.
Hier mag das Ende von Ceausescu zwar seinen Sicherheitsapparat weggefegt haben, aber nicht die Erinnerung an dessen Macht bis in die Familien hinein. Viele gehen weg, nach Westen. Und die Angepassten von damals sind die Karrieristen der Gegenwart.
Nach und nach wird klarer, dass Kato und Lev seit Kindheitstagen verbunden sind, nach und nach zeigt sich der Charakter ihrer Beziehung, in der es Lev früh um Liebe und Zugehörigkeit ging und Kato immer um Freundschaft und Freiheit.
Erst als das Buch in der Gegenwart angekommen ist, zeigt sich, dass beides, Freundschaft und Liebe, vielleicht doch zusammengeht. Aber auch Levs frühes Trauma enthüllt sich und all die anderen Verluste seines Lebens. Zu denen zählt, dass Kato fünf Jahre zuvor das Dorf hinter sich ließ, um mit einem durchreisenden Deutschen die Welt zu erkunden.
Die unberechenbare menschliche Erinnerung
Iris Wolff findet die Themen auch in ihrem fünften Roman in der jüngeren und jüngsten Geschichte des Landes, in dem sie vor 46 Jahren zur Welt kam. Die zuweilen brutale Zeitgeschichte, gespiegelt in der Geschichte einer Familie und einer fragilen Liebe, ist erneut die Folie, auf der sie das Ineinander wie die Gegenläufigkeit von Heimatbedürfnis und Aufbruch, von Zugehörigkeit und Freiheit betrachtet.
Ein aus früheren Büchern von Iris Wolff ebenfalls vertrautes Thema ist die unberechenbare Dynamik des menschlichen Erinnerungsvermögens. Hier wird es gefasst in ein Bild, das dem Roman den Titel gibt: das der Lichtungen.
Was verbindet uns mit den anderen?
Die anderen sind es, die und der andere, was der Autorin auch in „Lichtungen“ besonders schildernswert scheint, sprich, die Figuren und ihre Resonanzen. Levs Perspektive ist die bestimmende, seine Träume, seine Verletzungen, seine Hoffnungen, seine Zweifel.
Die Motive der anderen bleiben ihm oft rätselhaft, ja undurchdringlich. Auch lesend erfährt man davon meist nur durch die Außensicht. Dass Nähe möglich ist, wenigstens für Augenblicke, und dass aus diesen Augenblicken trotz allem Dauer entstehen kann, ist das eigentliche Wunder, von dem Iris Wolff in „Lichtungen“ erzählt.
Die Autorin ist in den letzten Jahren mit vielen bedeutenden Preisen ausgezeichnet und bei diesen Gelegenheiten als glänzende Stilistin gewürdigt worden. Ihr altmeisterlicher, dabei schwebender Ton, ihre Arbeit mit Leitmotiven und Leerstellen, ihre Befähigung, die wichtigen, vielsagenden Details aufleuchten zu lassen, hat etwas magisch Bezwingendes.
Kleinere Macken und Manierismen, wie der häufige und manchmal falsche Einsatz des Demonstrativpronomens „dieser“, stören allerdings ein wenig, gerade in einem Erzählen, das so sehr aus der Sprache lebt.
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