Gespräch und Lesung

Gespräch mit Poeta Laureatus Michael Krüger zum sechsten Gedicht

Stand
Moderator/in
Alexander Wasner
Alexander Wasner, Autor und Moderator bei SWR Kultur
Autor/in
Michael Krüger

Zum ersten Mal treffen sich Poeta Laureatus und SWR2-Literaturredakteur Alexander Wasner persönlich – und dann in so einem Rahmen: Beim Literaricum in Lech/Arlberg. So frisch war das Gedicht noch nie im Gespräch – Der Dichter schickt es direkt vom Korrekturlesen an den Reporter. Aber kann man über Klima und Krieg mitten in der friedlichsten Natur der Alpen sprechen? Und wie geht man damit um, wenn das Gedicht sich gegen Alice Schwarzers Friedensinitiative wendet, während ihre Urheberin im Nachbarzimmer sitzt. „Ja, wir verlieren uns allmählich aus den Augen.“
Das Gedicht dreht sich im Kreis, der Dichter weiß nicht mehr weiter und bricht ab… „Die Welt schmeckt jetzt anders“, so verbindet der Dichter die sinnliche Seite des Sommers mit der nervösen Katastrophenerwartung der Gegenwart.

Das sechste Gedicht

Das Jahr ist schon halb vorbei, vorbei auch die Hoffnung,
dass der Krieg verliert. In meiner Jugend, sagte gestern der Schäfer,
gab es Unterschiede zwischen Krieg und Frieden, auch wenn
nicht alle sie wahrhaben wollten. Die Welt schmeckt jetzt anders,
und selbst wenn die Sonnenblumen so tun, als sei alles beim Alten,
man kann zusehen, wie sie altern lange vor der Zeit. Vom Gras
will ich gar nicht reden. Hast du gesehen, wie sie dem Himmel
die Haut vom Leibe zerrten, als in Toronto die Wälder brannten?
Die Sicherheit fehlt. Einmal war man sich sicher, dass von jedem Satz,
den man sagte, ein Wort hängen blieb wie das Fitzelchen Fell
von den Schafen am Zaun, eine Bewegung, eine Geste, ein Stolperer,
was weiß ich, und dieses Fast-Nichts hielt die Welt zusammen.
Jetzt bombardieren sie Kindergärten, Schulen und Krankenhäuser,
weil sie nicht wissen, wie man ohne tote Kinder die Idee des Imperiums
retten soll. Und der Pope scheint sich an der Blutspur zu freuen,
die bis nach Kiew zu sehen ist, dem Herzen der alten Rus.
Man weiß nicht weiter, hat den Faden verloren, überall lungern
die verkrüppelten Hoffnungen herum, und im deutschen Fernsehen
sagen ein paar sehr elegant gekleidete Schachteln, man solle doch
bitte miteinander reden. Ja, wir verlieren uns allmählich aus den Augen.
Manche gehen auf die andere Straßenseite in den Schatten,
damit sie nicht gesehen werden. Andere verkünden, die Fenster und Türen
erst in zehn Jahren wieder öffnen zu wollen, wenn der Leichengestank
sich verzogen hat und man an der Asche nicht mehr erkennt,
wer oder was hier verbrannt wurde direkt in unserem Vorgarten.
Einer unserer Nachbarn hofft auf ein Leben nach dem Tod, er studiert
nach den Börsennachrichten die einschlägigen Suren und die Offenbarung
des Johannes und das 4.Buch Esra: Wenn die Tiefe sich leert,
die Höhe sich verdunkelt und die Sonne erlischt, dann macht er
keinen Hehl aus seiner Freude. Mit anderen Worten, der Sommer war schön.
Ich las, mit Krapp, „mir die Augen aus dem Kopf, indem ich wieder einmal
Effi las, eine Seite pro Tag, wieder einmal unter Tränen“, und abends,
nach Sonnenuntergang kam der liebe Leopardi vorbei, der Krüppel,
und diskutierte mit mir die Vorzüge der Wiedereinführung der Sanduhr.
Als ich ihm sagte, dass die Zahl der Neugestorbenen dabei sei,
die Zahl der Neugeborenen zu überholen, weinte er. Auch diese Tränen
gehören zu diesem Sommer, der hoffentlich bald