Von Vietnam bis Afghanistan: Der Journalist George Packer erzählt mitreißend vom Leben eines Ausnahmediplomaten.
Wer sich an die Balkankriege erinnert, kennt Richard Holbrooke wahrscheinlich noch als Architekten von Dayton, jenem Abkommen, das den Bosnienkrieg 1995 beendete. Im Serbischen entstand damals ein neues Verb. „holbrukciti“ hieß so viel wie „seinen Willen mit roher Gewalt durchsetzen“, ein Ausdruck, der dem raffinieren Vorgehen des Spitzendiplomaten in den Verhandlungen mit Slobodan Milosevic nicht wirklich gerecht wurde.
Richard Holbrooke war in den 90er-Jahren ein bedeutender Mann. Nach Dayton sicherte er als UNO-Botschafter die gefährdete Präsenz der USA in der Staatengemeinschaft und brachte Themen wie Aids in den UNO-Sicherheitsrat. Aber eine 700 Seiten starke Biographie über einen Karrierediplomaten: Gehört so etwas nicht eigentlich eher in den Bereich der Hochschulschriften?
Dass „Our Man: Richard Holbrooke and the End of the American Century“ nun ins Deutsche übersetzt und in einem Publikumsverlag erschienen ist, liegt weniger am Thema als an seinem Autor. Der Journalist George Packer erhielt für „Die Abwicklung“ 2013 den National Book Award und machte auch hierzulande Furore. Die glänzend geschriebene „innere Geschichte des neuen Amerikas“ beschrieb jenen Teil der USA, der wenige Jahre später Donald Trump zu seinem Präsidenten wählen würde.
Die diplomatisch verminten Trump-Jahre verbrachte der „Atlantic“-Journalist nun unter anderem damit, sich in die Lebensgeschichte Holbrookes zu vertiefen: Von der ersten und prägenden Mission im Vietnam-Krieg, über seine Zeit als Vermittler auf dem Balkan, bis hin zu seinem eher unrühmlichen Ende als Sonderbeauftragter für Afghanistan und Pakistan.
Als Quelle diente Packer der Nachlass, den ihm Holbrookes Witwe exklusiv zur Verfügung stellte. Daneben forschte er vier Jahre in Archiven und führte 250 Interviews, unter anderem mit Hillary Clinton und Henry Kissinger. Packer konzentriert sich nicht nur auf die diplomatischen Missionen unter demokratischen Präsidenten, sondern beschreibt auch detailversessen die republikanischen Jahre im „Leerlauf“, die er als Investmentbanker und Lobbyist zubrachte, ohne sich groß um Interessenskonflikte zu kümmern.
Das Bild, das von Holbrooke entsteht, ist wenig schmeichelhaft. Schonungslos seziert Packer die Charakterschwächen seines Helden: Seine Eitelkeit, seine Illoyalität, seine Unfähigkeit zur Selbstreflexion, seinen unanständigen Egoismus. Was soll man zum Beispiel von jemandem halten, der für sich selbst Stellungnahmen sammelt, um den Friedensnobelpreis zu bekommen?
Dennoch hat George Packer ziemlich viel für Holbrooke übrig. Denn der Diplomat war trotz seiner Unzulänglichkeiten ein Idealist und setzte seinen messerscharfen Verstand und unerschöpflichen Tatendrang dafür ein, Konflikte zu lösen. „Holbrooke“, schreibt Packer rundheraus, „gehörte zu den wenigen Amerikanern ganz oben in den Wipfeln der Macht, denen die finsteren Orte der Erde nicht am Arsch vorbeigingen.“
Dass Holbrookes Tod 2010 mit dem von Obama verwalteten Rückzug der USA von der Weltbühne zusammenfällt, ist für Packer ein sprechender Zufall. „Das amerikanische Jahrhundert“ der Interventionen sei zwar kein „Goldenes Zeitalter“ gewesen, meint Packer ein wenig euphemistisch, aber den Alternativen allemal vorzuziehen.
„Das Ende des amerikanischen Jahrhunderts“ ist keine klassische Biographie, sondern fast schon eine Art Roman. Eine vielstimmige, abwechslungsreiche Erzählung mit filmreifen Dialogen, rasant geschnittenen Szenen und einer eindringlichen Stimme aus dem Off. Besonders zitierfähig ist das alles nicht, denn die Informationen stammen großteils aus Hintergrundgesprächen und somit aus unbekannter Quelle.
Manchmal fragt man sich, ob alle romanhaften Ausschmückungen wirklich belegbar sind. Quellenkritik dürfte Packer wenig interessieren. Aber das Werk ist dermaßen stimmig komponiert und so spielerisch leicht erzählt, dass diese Einwände fast pingelig wirken. Wer über so viele Seiten packend über einen unsympathischen und fast schon in Vergessenheit geratenen Diplomaten schreiben kann, muss ein Schriftsteller allerersten Ranges sein.
Aus dem Englischen von Gregor Hens
Rowohlt Verlag, 704, 34 Euro
ISBN 978-3-498-00218-3
Der 1960 geborene George Packer ist ein amerikanischer Journalist und Autor. Mit seinem Buch über die "innere Geschichte des neuen Amerika" wurde er vor zehn Jahren mit dem "National Book Award" ausgezeichnet.