Auffällig viel Jubel und Einigkeit herrschte, als mit Elke Erb die Büchner-Preisträgerin 2020 bekannt gegeben wurde: „Weltliteratur aus Prenzlauer Berg“ konnte man lesen über eine, die schon in der DDR eine bewunderte Größe war und die einen enormen Einfluss gerade auf die junge deutschsprachige Lyrikszene hat.
Die 1938 in der Eifel geborene Schriftstellerin Elke Erb wuchs in einem Elternhaus auf, das sich schon bald in Auflösung befand. Ihr Vater, der marxistische Literaturhistoriker Ewald Erb, galt eine Zeit lang als vermisst, als er seine Familie in die DDR nachkommen ließ.
Wendepunkte bestimmen das Leben der Autorin
Kaum in Halle angekommen, verbrachte Elke Erb zunächst zwei Jahre in einem Heim. Die Biografie der Autorin ist auch später von zahlreichen Brüchen und Wendepunkten geprägt.
Nach der Schulzeit arbeitete sie erst in einem landwirtschaftlichen Betrieb, um dann Russisch und Deutsch zu studieren.
Als Regimekritikerin hatte Erb in der DDR keinen leichten Stand
Sie bekam einen Job als Lektorin in einem Parteiverlag, doch als sie immer wieder in einer Nervenklinik behandelt werden musste, zog sie schließlich als freie Schriftstellerin nach Ostberlin.
Schon bald wurde sie in der Lyrik-Szene im Prenzlauer Berg zu einer bekannten Stimme, auch wenn sie als Regimekritikerin nur wenige Möglichkeiten zur Veröffentlichung in der DDR hatte.
2020 erhält die Autorin mit dem Georg-Büchner-Preis den wichtigsten Literaturpreis des deutschsprachigen Raumes
In Westdeutschland hingegen wuchs ihr Renommee, vor allem innerhalb der Lyrik-Szene. So erhielt sie 1988 den mit damals 15.000 DM dotierten Peter-Huchel-Preis für ihren Gedichtband „Kastanienallee“.
Inzwischen ist sie längst kein Geheimtipp mehr: 2020 erhält Erb mit dem Georg-Büchner-Preis die wichtigste Literaturauszeichnung im deutschsprachigen Raum. Pünktlich zu dieser Ehrung erscheint im Suhrkamp Verlag auch ein Band mit Gedichten aus dem Gesamtwerk der Lyrikerin.
Widersetzung gegen die SED wurde in Form von Sprache geübt
In einem mittlerweile vielzitierten Gespräch mit der Schriftstellerin Christa Wolf hat Elke Erb einmal gesagt: „Ich bin außerhalb der Form. Und das ist eine Chance und ein Risiko. Die Menschheit geht mit mir ein Risiko ein, ich diene als Risiko.“
Auf den ersten Blick könnte man meinen, diese Formulierungen seien kokett, vielleicht sogar größenwahnsinnig. Dabei drücken die 1978 formulierten Sätze vor allem eine sprachliche Renitenz aus, nämlich gegenüber einer Gesellschaft, in der Literatur vor allem linientreu sein musste, die Herrschaft der SED niemals anzweifeln durfte.
Im Januar 1980 schrieb Elke Erb das Gedicht
„Sklavensprache“
Die Hände, die gestreichelt haben, kann man ruhig abhacken. Das
Ändert nichts, denn sie würden das Streicheln nicht lassen, und es
Führt zu nichts Gutem.
Man kann sie aber auch fesseln, und die Person, der sie gehören,
folgt ihnen nach bis in die finsterste Zelle.
Erbs Gedichte sind auch ohne den historischen Bezug noch immer gültig
„Ich habe den Verhältnissen gekündigt, / sie waren falsch“, heißt es an einer anderen Stelle. Deutlichkeit ist im Werk von Elke Erb die Voraussetzung für literarisches Schaffen, das immer auch das Risiko eingeht, im Abseits zu stehen.
So dürfen ihre Arbeiten, die in der DDR entstanden sind, durchaus als Protest gegen staatlich normiertes Schreiben gelesen werden, sind aber auch ohne den historischen Bezug noch immer gültig.
Weil es in ihren Arbeiten um grundsätzliche Fragen zur Ästhetik geht, wie etwa der Möglichkeit, den Prozesscharakter von Lyrik abzubilden. Natürlich stand und steht Erb nie ganz außerhalb der Form.
Die Suche nach Wahrheit in Welt und Ästhetik steht im Fokus
Der von Monika Rinck und Steffen Popp herausgegebene Band mit Gedichten aus fünf Jahrzehnten zeigt Erbs erstaunlichen Willen zur Formenvielfalt, der sich in einer skurrilen Szene genauso ausdrückt wie in einer naturlyrischen Beobachtung, mal im essayistischen Langgedicht, dann im autobiographischen Zweizeiler, in graphisch aufgelösten Poemen genauso wie in klassischer Lautpoesie, gefolgt von poetologischen Reflexionen und Erörterungen volkstümlicher Redewendungen.
Elke Erb dichtet und kommentiert ihre Lyrik gleichermaßen, sie untersucht und formt Worte und Bedeutungen, immer auf der Suche nach Wahrheiten in der Welt und in der Ästhetik – mögen die auch noch so übel sein.
„Kaum setze ich die Feder an, bohrt sie sich in den Grund.
Auch schon ohne Papier, schon im Kopf. – Oder so gesagt. Gehe ich
Dem Übel auf den Grund, kommt es über mich, Übel auf Übel!“
Erbs Auszeichnung in diesen Zeiten ist ein Politikum
Das Übel hält die Dichterin keineswegs von weiteren Tiefenbohrungen ab, denn für sie gilt die Maxime: „Lange und stumpf zu tun haben mit den Sachen bringt den Sachverstand – das gewußt wie bringt ihn nicht.“
Tatsächlich ist das „Besondere an den Gedichten und Texten Elke Erbs“, wie es im Nachwort heißt, „ihr beharrlicher, aufmerksamer und zugewandter Umgang mit ausnahmslos allem, was der Fall ist.“
Es geht um „Erkenntnis, Einsichten, Überblicke“, und nicht zuletzt deshalb ist der Georg-Büchner-Preis an Erb in Zeiten, in denen ständig über Fake News und Meinungsmache gestritten wird, eine auch politische Entscheidung.
Erbs Stil ist wendig und selbstreflexiv
Der Lyrikerin eilt zuweilen der Ruf voraus, in ihren Sprachexperimenten unverständlich zu sein. Wer sich aber auf den wendigen und selbstreflexiven Stil einlässt, stellt eine bemerkenswerte Klarheit in der Beobachtung fest.
Elke Erb ist keine Dichterin, die nebulöse Zeilen raunt, die mit Pathos berühren möchte oder gefühligen Biedersinn anbietet. Bei ihr geht es, im wahrsten Sinne des Wortes, zur Sache – zu der eben auch die autobiographische Erkundung gehört.
Die meisten von Erbs Gedichtbänden wurden in Kleinverlagen aufgelegt
Mag das lyrische Ich von Kreuzweh geplagt sein, so wie in dem Stück mit dem schönen, weil skeptischen Titel „Gedichtverdacht“, Erb nutzt die Selbstreferenz in aller Regel als Chance, poetisches Material zu schöpfen.
Elke Erb hat die meisten ihrer zwanzig Gedichtbände in Kleinverlagen veröffentlicht. Sie hat auch nach dem Fall der Mauer am Rande des literarischen Betriebs gearbeitet.
Die Lyrik Erbs ist stilprägend für die nachfolgende Generation
Luftiger und leichter wirken ihre Gedichte jüngeren Datums, obwohl es bzw. gerade weil es um die eigene Gebrechlichkeit geht. Elke Erb scheint sich in der Paradoxie besonders heimisch zu fühlen.
In letzter Zeit darf sich die Autorin wieder vermehrt über Preise und Stipendien freuen. Auch weil ihre Lyrik für die nachfolgende Generation stilprägend ist, vor allem was die poetische Selbstreflexion anbelangt.
Der Gedichtband liest sich wie ein Angriff auf die Gegenwartsliteratur
Der klug editierte Band im Suhrkamp Verlag würdigt nun dieses nachhaltige Lebenswerk einer Dichterin, die allerdings nie schulbildend sein wollte.
Ihre Literatur ist vielmehr als Aufforderung zur lyrischen Selbstermächtigung, als Absage an den kleinsten gemeinsamen Nenner zu verstehen und der Buchtitel „Das ist hier der Fall“ als bittere Pointe.
Elke Erbs Dichtkunst jedenfalls, mag sie nun auch zur Suhrkamp-Kultur gehören, liest sich wie ein Angriff auf fast alles, was literarisch derzeit der Fall ist.
Mehr zu Elke Erb:
Forum Weder Nische noch Kanon – Neue Perspektiven für Lyrik von Frauen
Die US-amerikanische Lyrikerin Louise Glück erhält in diesem Jahr den Literaturnobelpreis. Die Dichterin Elke Erb mit dem Georg-Büchner-Preis die wichtigste Auszeichnung der deutschsprachigen Literatur. Pünktlich zur Frankfurter Buchmesse, die in diesem Jahr weitgehend digital stattfindet, erscheint im reclam-Verlag eine 880 Seiten starke Anthologie mit dem Titel „Frauen | Lyrik“, die mehr als 500 Gedichte vor allem von Dichterinnen enthält. Wie hat sich der Blick auf Lyrik von Frauen geändert und was erzählt der Erfolg der Dichterinnen über gegenwärtige Geschlechterverhältnisse?
Carsten Otte diskutiert mit: Prof. Dr. Ulrike Draesner - Schriftstellerin und Leiterin des Leipziger Literaturinstituts, Dr. Anna Bers - Herausgeberin der Gedichtanthologie „Frauen | Lyrik“, Michael Braun - Literaturkritiker
Lesenswert Magazin Von Sprachverliebten und Büchernarren - Brillantes aus den USA, ein Film über Buch-Verrückte und ein Hoch auf die Büchner-Preisträgerin Elke Erb
Ein fast kindlicher Spaß an Sprachspielen und eine Lust am Experimentellen zeichnet die Lyrik der diesjährigen Büchner-Preisträgerin Elke Erb aus. Pünktlich zur Preisverleihung am 31. Oktober erscheint bei Suhrkamp ein Band mit ausgewählten Gedichten aus 50 Jahren: "Das ist hier der Fall". Und auch ein anderer "Fall" beschäftigt uns: Der Verlag S. Fischer hat sich diese Woche von seiner langjährigen Autorin Monika Maron getrennt. Es geht dabei auch um den Willen einer Autorin zur Unbeugsamkeit und um viele Missverständnisse zwischen Ost und West, meint unser Kommentator Alexander Wasner. Der Amerikaner Don DeLillo beglückt uns in diesem Herbst mit einem brillanten, schmalen Roman über ein unheimliches New York im Lockdown. Der amerikanische Dokumentarfilm "The Booksellers" begleitet herrlich verschrobene Buchhändler in den USA. Das Roman-Debüt des norwegischen Star-Autors Karl Ove Knausgård ist jetzt auf Deutsch erschienen: eine sehr umstrittene Geschichte über sexuellen Missbrauch. Clemens J. Setz legt mit "Die Bienen und das Unsichtbare" einen spannenden Roman über Plansprachen vor - und wir entdecken den Österreicher Ernst Herbeck wieder, der als langjähriger Psychiatrie-Insasse kluge und rätselhafte Gedichte in die Welt schickte. Elke Erb: Das ist hier der Fall. Ausgewählte Gedichte Herausgegeben und mit einem Nachwort von Steffen Popp und Monika Rinck Bibliothek Suhrkamp, 210 Seiten, 20 Euro ISBN 978-3-518-22520-2 Gespräch mit Carsten Otte Unbequem um jeden Preis: Der S. Fischer Verlag trennt sich von Monika Maron Kommentar von Alexander Wasner Don DeLillo: Die Stille Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert Kiepenheuer & Witsch, 112 Seiten, 20 Euro ISBN 978-3-462-00128-0 Rezension von Christoph Schröder Unverbesserliche Büchernarren: Der Dokumentarfilm The Booksellers - Aus Liebe zum Buch, deutscher Kinostart 28.10., Rezension von Julia Haungs Karl Ove Knausgård: Aus der Welt Aus dem Norwegischen von Paul Berf Luchterhand Verlag, 926 Seiten, 26 Euro ISBN 978-3-630-87437-1 Rezension von Kristine Harthauer Clemens J. Setz: Die Bienen und das Unsichtbare Suhrkamp Verlag, 416 Seiten, 24 Euro ISBN 978-3-518-42965-5 Rezension von Ulrich Rüdenauer Ernst Herbeck: Der Hase!!! Jung und Jung, 338 Seiten, 28 Euro ISBN 978-3-99027-248-0 Rezension von Björn Hayer