Waren Piraten tatsächlich nicht nur Helden der Freiheit, sondern sogar so etwas wie Vorreiter der europäischen Aufklärung? Der anarchistische Anthropologe David Graeber sucht in seinem letzten Buch nach Antworten.
Ein neues Piratenbild?
Was denn? Piraten als „Gentleman-Freibeuter“? Piraten als Helden der Anarchie? Piraten als Rebellen mit eigener Kultur? Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit gar? Haben wir nicht ein ganz anderes Bild von diesen Gestalten mit Augenklappe, Holzbein und Krummsäbel? Ja, eben, genau darum geht es: Vorurteile und eingefrorene Gedanken aufzuweichen.
David Graeber, der provozierende Anthropologe, hat mit dieser Schrift die Welt mal wieder auf den Kopf gestellt und andere Sicht- und Denkweisen ermöglicht. Als „kleines Experiment in Sachen Geschichtsschreibung“ bezeichnet Graeber seinen Essay im Vorwort und zudem, wie er später schreibt, als „gezielte Provokation der gegenwärtigen Geschichtsschreibung“.
Der Menschenkundler Graeber betrachtet die Piraten als „Vorreiter bei der Entwicklung neuer Formen demokratischer Regierungsführung“. Als schlagendes Argument verweist er auf die Organisation von Piratenschiffen. Nach außen hin rabiat und furchteinflößend geführt, an Deck und unter Bord aber in Versammlungen mit Abstimmung aller Beteiligter organisiert. „Das Beste, was man über die Piraten vielleicht sagen kann, ist“, heißt es zu Beginn, „dass ihre Brutalität für ihre Zeit keineswegs ungewöhnlich, ihre demokratischen Praktiken aber nahezu ohne Einschränkung beispiellos waren.“
Waren Piraten Vordenker der europäischen Aufklärung?
Es ging letztlich um Umverteilung. Den Reichen und Mächtigen etwas von dem abzujagen, was sie selbst erbeutet hatten, zumeist auf Kosten des Volkes. In drei Teile gliedert Graeber seinen Essay: „Piraten und Schattenkönige im Nordosten Madagaskars“, lautet Teil Eins; „Die Ankunft der Piraten aus madagassischer Sicht“ Teil Zwei; „Piraten-Aufklärung“ Teil Drei.
Denn Graeber behauptet, die Piraten seien so etwas wie Vordenker der Aufklärung in Europa gewesen. So lautet der Titel im Englischen: „Pirate Enlightenment“, also: „Piraten Aufklärung“ und ebenso, ursprünglich im Französischen von 2019: „Les Pirates des Lumières“. Es ist ein Gedankenexperiment. Eine Spurensuche, eine Fährtenlesung.
Es geht auch um die Möglichkeit eines anderen Lebens
Zugrunde liegen verschiedene Annahmen, die schon zum Allgemeinwissen gehören, auch wenn sie voller Legenden und Mythen sind: beispielsweise Libertalia, die utopische, egalitäre Piratenrepublik auf Madagaskar, die vom Schriftsteller Daniel Defoe, dem Erfinder von Robinson Crusoe bekannt gemacht wurde – doch bis heute weiß man nicht, wie ausgedacht und fantasiert diese Geschichte ist.
Und dann orientiert sich Graeber vor allem an einer Schrift, die bis heute unveröffentlicht ist. Eine Erzählung von 1806, in der ein französischer Autor namens Nicolas Mayeur viele Gespräche mit madagassischen Einheimischen aus den Jahren 1762 bis 1767 gesammelt hat, eine Grundlage der madagassischen Geschichte für diese Epoche, wie Graeber urteilt.
Mit der Schrift von Mayeur und seinen „ersten realistischen ethnografischen Berichten von Madagaskar“, wie Graeber schreibt, eröffnet der Anarchist Möglichkeiten für ein anderes Leben: radikale Demokratie; keine Zwangsgemeinschaft, sondern basisdemokratische Beratungen; Gleichheitsgrundsatz; Beteiligung von Frauen an politischen Versammlungen; „ein Gesellschaftsvertrag im klassischen Sinn“, urteilt Graeber und dieser sei gewaltlos geschlossen worden.
Vieles basiert auf Spekulationen und doch regt das Buch zum Nachdenken an
Es ist viel Spekulation und Kombination in Graebers Argumentationsweise, viel ungesichertes Wissen, „es sieht ganz danach aus“, heißt es einmal, oder: „Es lässt sich nur schwer irgendetwas mit Gewissheit sagen“, ein anderes Mal, und manche Argumentation wirkt dann auch nicht mehr schlüssig, es wird behauptet, geschlussfolgert. Ist das Eulenspiegelei und Wolkenkuckucksheim?
Auf alle Fälle aufregend und anregend und zweifelnd bedenkend. Wie üblich bei Graeber: Das Publikum wird auf Abwege geführt und kann auf neue Gedanken kommen. Die Sichtweise von Herrschenden wird in Frage gestellt und eine andere Welt in den Blick genommen. Graeber war der Fantast in seiner Zunft. Ein Jammer, dass er nur 59 Jahre alt wurde und im September 2020 gestorben ist.
Buchkritik David Graeber, David Wengrow – Anfänge
Der Titel „Anfänge – Eine neue Geschichte der Menschheit“ hält was er verspricht. Dieses Buch stellt viele weitverbreitete Ideen über das Leben in der Steinzeit auf den Kopf. Es ist das letzte Werk des Anthropologen David Graeber. Zusammen mit dem Archäologen David Wengrow wirft er einen neuen Blick auf die europäische Aufklärungsphilosophie, liefert einen Parforceritt um den Globus und durch die Epochen seit der Steinzeit. “Anfänge” ist ein streitlustiges und streitbares Buch über den Ursprung der Zivilisation. Und eine Anregung, darüber zu debattieren wie menschliches Zusammenleben funktioniert.
Rezension von Max Knieriemen.
Übersetzt von Henning Dedekind, Helmut Dierlamm und Andreas Thomsen
Klett-Cotta Verlag, 560 Seiten, 28 Euro
ISBN: 978-3608985085
Buchkritik David Graeber: Bullshit-Jobs
Welche Arbeit hat einen Wert für den Einzelnen und für die Gesellschaft? David Graeber, US-amerikanischer Ethnologe, Antikapitalist und Vordenker der Occupy-Bewegung, ist auch bekennender Anarchist. Was er über Jobs denkt, mag absehbar sein, ist aber trotzdem erkenntnisreich.
Wort der Woche Bullshit Jobs
Ein Drittel unserer Jobs sind Bullshit, sagt der Wissenschaftler David Graeber von der London School of Economics. Und er meint damit Arbeiten, die keinen Sinn ergeben, die oft mit hoch trabenden Bezeichnungen wie "Human Ressources Management Consultant" daher kommen, aber für wenig oder keinen Inhalt stehen. "Bullshit Jobs" - für den Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen das "Wort der Woche", weil es einen bestimmten, durchaus fragwürdigen Zeitgeist widerspiegele.