In seinem neuen Lyrikband „Schorfheide“ reanimiert der Schriftsteller Gerhard Falkner das Naturgedicht für das digitale Zeitalter, und zwar in einer geschichtsversessenen wie sinnlichen Freilichtpoesie, die ganz „ohne Netzabdeckung“ auskommt.
Schauplatz der "Gedichte en plein air" sind die von Seen, Mooren und Feuchtbiotopen durchzogenen Waldgebiete im nördlichen Brandenburg namens Schorfheide, die einst als Jagdrevier dem preußischen Königshaus und zuletzt der politischen Elite der DDR vorbehalten waren.
Ein streitbarer Lyriker
Wenn der Dichter Gerhard Falkner in schöner Regelmäßigkeit seine polemischen Blitze auf die kleine Lyrikszene schleudert, dann ist es ratsam, rasch in Deckung zu gehen.
1989, im Jahr der Zeitenwende, hatte der 1951 im fränkischen Schwabach geborene Dichter nach seinem dritten Gedichtband „wemut“ seinen Ausstieg aus dem amusischen Literaturbetrieb angekündigt.
Doch es dauerte nicht lange, bis er seine selbstauferlegte poetische Mangelwirtschaft durchbrach und mit dem Band „Hölderlin Reparatur“, für den er den Peter Huchel-Preis erhielt, der Lyrik neue Horizonte erschloss.
„Schorfheide“ ist eine Neuerfindung des Naturgedichts
Nach zwei spektakulären Romanen legt Falkner nun erneut ein Gedichtbuch vor, den Band Schorfheide, in dem er eine geschichtsträchtige Landschaft durchquert und ein Genre neu erfindet – das Naturgedicht.
Einen Preis für das schillerndste Bonmot der lyrischen Saison kann man dem neuen Gedichtband Gerhard Falkners bereits jetzt zusprechen.
Denn als Bekenntnisformel und zugleich starken Versauftakt wählt er demonstrativ eine lässige Selbstbeschreibung des römischen Dichters Horaz:
Damit öffnet Falkner gleich das Feld für jene kunstvollen Ton- und Diskurs-Mischungen, die er seit jeher in seinen Gedichten ostentativ zelebriert.
Moderne und antike Metaphern werden verknüpft
Seit seinem phänomenalen Debüt „so beginnen am körper die tage“ aus dem Jahr 1981 ist dieser Dichter ein begnadeter Abrissarbeiter an den alten Nomenklaturen der Lyrik-Tradition - und ein Virtuose in der Verknüpfung antiker und moderner Metaphoriken.
Was verbindet nun die lässige Selbstpositionierung des Horaz mit der Poetik Falkners? Es ist der ausgeprägte Hedonismus beim Zugriff auf die poetische und philosophische Tradition.
In seinem 2014 veröffentlichten Gedichtbuch „Ignatien“, diesen wilden „Elegien am Rande eines Nervenzusammenbruchs“, hatte der Dichter das Subjekt im digitalen Zeitalter besungen, dessen Wahrnehmungsfähigkeit unter den Imperativen des reinen Online-Daseins verkümmert ist.
Der neue Band entwirft nun eine Gegenwelt zu den Prozeduren der Online-Existenz – im beherzten Zugriff auf das neben der Liebe älteste Territorium der Lyrik: das Naturgedicht.
Falkner will den Blick von den allgegenwärtigen Displays lösen
Am Ausgangspunkt steht hierbei die Beobachtung, dass die internetsüchtigen Dichter „nicht mehr zwischen einer Hecke und einem Drahtzaun unterscheiden können“ und stattdessen in jeder freien Minute unentwegt auf ein Handy oder ein anderes Display starren.
Dabei werden auch frühere Branchengrößen wie Brecht der botanischen Unkenntnis überführt:
Thema des Bandes ist eine Landschaft, ein moderner Rückzugsort
Dagegen setzt Falkner nun die emphatische Verknüpfung des Naturschönen mit den Fachsprachen der Linguistik, der Informationstheorie und der Gewässerkunde.
In den 80 Gedichten des Bandes durchquert er dabei historisches Terrain: von Carinhall, dem Landsitz Hermann Görings, bis zum Kloster Chorin, und von den „Stauchmoränen bei Falkenberg“ bis zu den „Metonymien zu Melzow“.
Der naturhistorische Stoffgrund dieser Gedichte ist nämlich die Schorfheide, die großen, von Seen, Mooren und Feuchtbiotopen durchzogenen Waldgebiete im nördlichen Brandenburg, die einst als Jagdrevier dem preußischen Königshaus und zuletzt der politischen Elite der DDR vorbehalten waren.
Eine Landschaft, die heute zum bevorzugten Ausflugsziel und Fluchtort der von der Metropole Erschöpften geworden ist.
Postmoderne Referenzen spielen eine untergeordnete Rolle
Falkners Stichwortgeber bei seiner Suche nach neuen Formen der poetischen Topografierung dieser Landschaften sind Friedrich Schlegels romantische Naturphilosophie und Paul Celans „Meridian“-Rede.
So entstehen aufregende, zwischen Naturmagie, Geschichtsreflexion und kühlem Fachsprachenvokabular oszillierende Gedichte „unterm Freilichthimmel“, wie es an einer Stelle heißt, und „ohne Netzabdeckung“.
Das poetische Spiel mit postmodernem Wissen soll, so deutet es der Autor in seinem „Schlusswort“ an, nur noch eine Nebenrolle spielen.
Schroff wechselnde Tonlagen zeichnen den Gedicht-Zyklus aus
Die Tonlagen und Melodien, die im Schorfheide-Zyklus angeschlagen werden, schwanken indes heftig. Es gibt ironisch ausgekühlte Gedichte, die sich auf die Ernüchterung des naturpoetischen Grundwortschatzes konzentrieren und den Crash zwischen wissenschaftlicher Begrifflichkeit und den Topoi romantischer Naturpoesie vorsätzlich herbeiführen.
Das mit dem bereits erwähnten Horaz-Zitat kokettierende Gedicht verschmilzt zum Beispiel den Naturstoff mit den Begriffen des berühmten Linguisten Ferdinand de Saussure:
Reanimation des Naturschönen und der Erhabenheit
Es finden sich aber auch ganz wagemutig pathetische Gedichte, die vom ironischen Spiel mit den Zeichensystemen gänzlich absehen und stattdessen eine Ästhetik der Erhabenheit wieder ins Recht setzen.
Da hat der Autor den Habitus des geschmeidigen Hedonisten vollständig abgestreift und kultiviert unversehens einen sehr hohen Ton in leicht trochäisch und daktylisch dahinfließenden Versen:
Eine Bildwelt, die man eher bei Rilke vermuten würde
Hier ist man nun plötzlich mit einer Bildwelt konfrontiert, die man eher bei Rilkes Duineser Elegien oder dem ästhetischen Fundamentalismus Stefan Georges vermuten würde.
Seine kühne These im „Schlusswort“ des Bandes, die traditionelle Metapher sei „ermüdet und verglüht wie eine ausgeräumte und verglühte Landschaft“, hat Gerhard Falkner jedenfalls mit seinem Rückgriff auf sehr alte Kunstmittel eindrucksvoll widerlegt.