Von Carolin Courts
Bettina Wilpert hat mit "Nichts, was uns passiert" einen Roman geschrieben, der eine erschreckende, weil fast schon alltägliche Geschichte sexualisierter Gewalt erzählt. Ihr Debüt in einem kleinen Verlag, das auch wegen des relevanten Themas Furore macht, ist aber elegant geschrieben und klug erzählt.
So wundern weder die vielen Auszeichnungen noch die guten Verkaufszahlen.
Bettina Wilperts erster Roman ist ihr zweiter
Bettina Wilpert ist eine der am meisten beachteten Debütantinnen des Jahres. Dabei ist der Roman, um den es geht, eigentlich schon ihr zweiter. Für den ersten hat sie keinen Verlag gefunden. Damals hat sie sich gesagt: „Mit dem Zweiten muss es klappen!“ – und das hat es dann auch.
Bettina Wilpert hat mit "Nichts was uns passiert" nicht nur den Aspekte-Literaturpreis des ZDF gewonnen, sondern auch den Förderpreis zum Lessing-Preis des Freistaats Sachsen und den Melusine-Huss-Preis. Das ist umso weniger selbstverständlich, als die Autorin ein heikles Thema gewählt hat.
Es gibt Täter und Opfer
Für Bettina Wilpert selbst ist der Fall völlig klar. Wenn man sie fragt, sagt sie, dass sie einen Roman über eine Vergewaltigung geschrieben hat. Nicht über ein Missverständnis zwischen einer Frau und einem Mann. Die Schlüsselszene liest sich so:
"Ich finde, es gibt genügend Hinweise, was da passiert ist, und es ist mir selber auch wichtig, dazu eine Haltung zu haben. Auf Lesungen spreche ich ganz klar von Betroffener und Täter und nicht von vermeintlichem Opfer und vermeintlichem Täter. Ich habe jetzt schon mit vielen Leuten gesprochen, und es gibt natürlich diese Lesart, dass es nicht aufgelöst wird, das ist mir auch klar", sagt Autorin Bettina Wilpert.
Ein Roman, der zum Diskutieren einlädt
Nur knappe 170 Seiten lang ist das Debut von Bettina Wilpert – aber die Diskussionen, die es begleiten, gehen tief und sind von grundsätzlicher Natur. Denn die Begegnung zwischen Anna und Jonas besteht aus mehr als dieser Schlüsselszene.
Und für etliche Leser liefern die Begleitumstände gleich mehrere Gründe, an der Vergewaltigung zu zweifeln.
Da ist einmal die Vorgeschichte. Anna und Jonas kennen sich aus dem linken Leipziger Studentenmilieu. Sie haben ähnliche Interessen, können einander leiden – und sie waren zuvor schon einmal zusammen im Bett – einvernehmlich.
Auch, was nach dieser ersten Nacht passiert, gehört mit zu den Begleitumständen. Beiden Beteiligten ist klar, dass aus ihnen kein Paar werden wird. Jonas hängt noch seiner frisch gescheiterten Langzeitbeziehung nach; Anna ist in einer schweren Sinnkrise, weil sie ihr Studium abgeschlossen und keinen Plan für die Zukunft hat.
Der Leser muss sich sein eigenes Bild machen
Von Liebe ist keine Rede. Aber Leipzig ist klein, Anna und Jonas laufen einander schon bald wieder über den Weg – und wo sie sich begegnen, wird stets sehr viel Alkohol getrunken.
Bettina Wilpert erklärt dazu: "Mir war es bei Jonas schon ziemlich wichtig, dass er sympathisch ist, und auch, dass es eben in diesem Milieu spielt, und dass jetzt nicht nur arbeitslose Hartz-IV-Empfänger Frauen vergewaltigen, sondern auch reflektierte junge Männer; das hat, glaube ich, auch funktioniert.
Bei Anna, habe ich mir ein bisschen weniger Gedanken gemacht, die war dann irgendwann da als Figur. Für mich ist sie sympathisch, aber ich glaube, dass Leute, die psychische Probleme haben, oft erstmal nicht so charismatisch wirken."
Die Gemengelage, die Bettina Wilpert aufbaut, ist bewusst nicht dazu angetan, es dem Leser einfach zu machen.
Die Charaktere schüren Zweifel an der Glaubwürdigkeit von Anna
Es gibt diesen vermeintlich anständigen jungen Mann, der an seiner Dissertation schreibt und sich ehrenamtlich engagiert – und eine junge Frau, die immer schlechte Laune hat, kein Ziel im Leben verfolgt und so gewohnheitsmäßig säuft, dass sie von dem Sommer, um den es im Roman geht, sowieso die Hälfte vergessen hat.
Sie wartet einen vollen Monat, dann zeigt sie Jonas aus einer Laune heraus an. Da geraten nicht nur Teile des Publikums in Zweifel, sondern auch die unbeteiligten Figuren im Buch:
Die allermeisten sexuellen Übergriffe werden niemals angezeigt
Wer die Ich-Figur ist, die hier kurz aufscheint, lässt Bettina Wilpert absichtlich im Dunkeln. Vorstellen dürfe man sich alles, sagt sie. Eine Journalistin, eine Ermittlerin, eine gemeinsame Freundin. Ist nicht entscheidend. Wichtig sind ihr andere Dinge.
Einige davon sind Zahlen. 95 Prozent aller sexuellen Übergriffe – so steht es auch im Buch – werden niemals angezeigt. Unter anderem, weil die Frauen den Spießrutenlauf fürchten. Die Urteile. Den Unglauben. Insofern ist es bezeichnend, wie sich die Romanhandlung entwickelt.
Das Buch ist kein Erlebnisbericht der Autorin
Bettina Wilpert, die mit ihrem Debut auf Lesereise unterwegs ist, hat eigene Erfahrungen mit Distanzlosigkeit gemacht. Gerechnet habe sie damit vor der Veröffentlichung ihres Romans nicht, sagt sie – aber nun müsse sie sich von Wildfremden fragen lassen, ob sie denn eigentlich selbst vergewaltigt worden sei. Alternativ wird es auch mal direkt unterstellt:
„Ich glaube, in Chemnitz war das, wo eine Frau am Anfang der Lesung zu mir kam, was ich eigentlich krass fand, und die meinte: „Ja, Respekt, dass Sie das geschafft haben, dieses Buch zu schreiben, wo Ihnen das ja selber passiert ist.“ „Nee, das ist mir zum Glück nicht passiert.“ Auf Lesungen wird dann relativ schnell klar, glaube ich, wie ich darüber rede, dass ich selbst kein Opfer von sexualisierter Gewalt bin."
Das Buch erscheint zur rechten Zeit
Trotz der teilweise unerfreulichen Gespräche: Bettina Wilpert bereut nicht, diesen Roman geschrieben zu haben. Gute Verkaufszahlen, mehrere Preise und weitere Nominierungen bestärken sie darin.
Und tatsächlich handelt es sich um einen elegant geschriebenen, klug erzählten und vor allem relevanten Text, der – mit Blick auf die gesellschaftliche Debatte – zu keinem besseren Zeitpunkt hätte erscheinen können.