Buch der Woche vom 26.8.2018

Helene Hegemann: Bungalow

Stand
Autor/in
Pascal Fischer

Helene Hegemann schildert in ihrem Roman „Bungalow“, wie ein Mädchen der Unterschicht entkommt. Dabei sollte man diesen intensiven Roman nicht auf den Plot hin lesen, sondern als Rausch, Alptraum, Bewusstseinszustand.

Die Sprache ist drastisch und ein Erlebnis. Mag die Autorin den Kulturmilieu-Sprech und das Distinktionsgehabe der Figuren im Vergleich zu den früheren Büchern reduziert haben, der Sound ist immer noch eigen genug, um etwas ganz Anderes zu sein als die viel zu oft gebändigte deutschsprachige Literatur.

Eine junge Autorin zwischen Hoch und Tief

Helene Hegemann hat mit gerade einmal Mitte zwanzig mehr erreicht als mancher Schrifsteller in einem ganzen Leben: Neben mehreren Filmen, bei denen sie Regie führte und für die sie Preise erhielt, wurde sie vor allem schon als 17jährige Jugendliche bekannt. Für ihren wilden literarischen Coming-of-Age-Roadtrip "Axolotl Roadkill" wurde sie erst vom Feuilleton gehypt, dann wegen einiger Plagiate gegeißelt.

Im Nachfolger „Jage zwei Tiger“ drehte sie ihren Sound beim Thema Wohlstandsverwahrlosung wieder auf und schuf ein wildes Delirium aus Jugendsprache und Hipster-Kulturmilieu-Sprech; eine Mischung aus Drogen, Sex und permanenter existentieller Abgrundstimmung, die die einen als Droge, die anderen als Wirrheit wahrnehmen.

Bei ihrem neuen Roman nun geht es um ein junges Mädchen, das den Ausstieg aus der Unterschicht schafft.

Die Protagonistin steht am Rande der Gesellschaft

Das klingt zunächst nach einer für Helene Hegemann eher untypischen Erzähldistanz, geht die Autorin doch in ihren Texten ohne Umschweife ins Geschehen: Charlie, eine junge Frau, erinnert sich an ihre ersten Lebensjahre in einer Siedlung von Mietskasernen mit Unterschichts-Bewohnern. Doch die Autorin tastet sich natürlich nicht zart an ihre Hauptfigur heran, sondern zeigt uns schnell, hart und brutal ein junges Mädchen am Abgrund: Migrationshintergrund, die Eltern früh geschieden, die Mutter schizophren, ihre Psychosen scheinen mal von der Krankheit, mal durch die Alkoholsucht hervorgerufen.

Charlie bleibt dann nur die Scham der ständig ängstlichen Co-Abhängigen: Die Mutter zur eigenen Sicherheit ins Zimmer sperren, die Situation vor den Nachbarn verschleiern, in der Schule erkennen müssen, dass sie als „Assi“ abgestempelt wird. Charlies Ungewissheit mündet bald in suggestiv beschriebene Alpträume von Schwimmbecken voller Schlangen, in die Angst vor gleich mehreren Weltkriegen. Dahinter steckten mehr als Teenagerängste, das sei die „Tyrannei der Ungewissheit“, der wir alle ausgesetzt seien, sagt Helene Hegemann.

Erwachsenensprache und Jugendslang werden elegant verknüpft

Als wolle sie die Emblematik hier unterstreichen, sind einige Eckdaten vage gehalten; wir wissen nur, dass die Handlung in etwa nach der Jahrtausendwende in einer Großstadt spielt.

Nichtsdestotrotz ist es grandios, wie Hegemann in den Kopf der Teenagerin schlüpft, wie sich fremdwortlastige Erwachsenensprache mit Jugendslang mixt, wenn Charlie sich erinnert. Wie ein mausgraues Mädchen mit Jungskörper zur Frau reift und plötzlich mit ihrer heimlichen Jugendliebe Pornos schaut. Wie sie erkennt, dass alles Soziale zum guten Teil aus Heuchelei und Fake besteht.

Die Überwindung sozialer Barrieren als Wendepunkt

Und schließlich nimmt Charlies Leben eine Wendung: Mitten in der Siedlung sind Luxusbungalows architektonischer Exklusivität gebaut, und Charlie trifft auf ein faszinierendes, dekadentes Schauspielerehepaar, Georg und Maria, beide den Drogen und dem Alkohol nicht gerade abgeneigt. Erst stalkt Charlie die beiden, verliebt sich dann in sie, in ihren Glamour, in ihre Kreativität und Weltläufigkeit, und wird schließlich einen immer intimeren Kontakt mit ihnen haben... Schauspielerei, Kunst und Sucht überwinden die sozialen Barrieren – tief unten funktelt hier eine sehnsuchtsvolle, wenngleich morbide Romantik.  

Chaotische Lebensverhältnisse vor blutigem Hintergrundrauschen

Das alles hätte für ein intensives Kammerspiel schon gereicht. Aber Helene Hegemann pflanzt schier jeder Figur via Backstory apokalyptische Extreme ein: Georg etwa hat im Zivildienst beobachtet, wie sich eine Patientin aus dem Fenster stürzt und vom Balkongitter zerteilt wird. Insgesamt ist das blutige Hintergrundrauschen im Viertel von der Vordergrund-Handlung kaum zu trennen.

Es beginnt sogar eine Selbstmordserie, zum Teil mit extravaganten Entleibungstaktiken. Sogar die Tiere werden nicht von Neurosen und Sadismus verschont: Da ist ein Hund so neurotisch, dass er sich in Tierkadavern wälzt und alte Ehepaare anrempelt. 

Ein knallhart kalkulierter, permanenter Nervenzusammenbruch beim Leser. Was der Plot im Großen erzählt – dass Entferntes sich nahe kommt –, das spiegelt sich sprachlich auf der Satzebene wider. Die extremsten Gegensätze sind hier nonchalant verbunden. Von Maria etwa heißt es einmal: Sie hätte Kulturtheoretikerin sein können oder Chefin eines internationalen Drogenringes. 

Ein ausgefallen gezeichnetes Porträt eines Kulturmilieus

Oft bleiben die Widersprüche auch rätselhaft und unheimlich. Wie beim Großvater von Georg, der leere Joghurtbecher sammelt und im Garten vergräbt. Es ist eben das Programm, das Leben als schreiende Verwirrung zu schildern, mit bombastischen, skurrilen Vergleichen und Aufzählungen. Mag sein, dass Helene Hegemann den Kulturmilieu-Sprech und das Distinktionsgehabe der Figuren im Vergleich zu den früheren Büchern reduziert hat. Der Sound ist immer noch eigen genug, etwas ganz Anderes zu sein als manch brave, gebändigte Literatur hierzulande.  

Mag Charlie schlussendlich auch aus der Siedlung und dem Milieu herauskommen, mag das Ende also, sagen wir einmal, „gut“ sein – egal. Mag mancher, der eine brave Sozialreportage im Seite-drei-Stil der Zeitungen erwartet, erschlagen sein - geschenkt. Man sollte diesen intensiven Roman nicht auf den Plot hin lesen, sondern als Rausch, Alptraum, Bewusstseinszustand. Ein Erlebnis ist er ganz sicher!

Stand
Autor/in
Pascal Fischer