Der 1949 im Vorarlberger Bodenseedörfchen Hard geborene Michael Köhlmeier gehört zu den vielseitigsten Schriftstellern deutscher Sprache. Er hat zahlreiche Romane geschrieben, aber auch Gedichte, ein Kinderbuch, Kurzgeschichten, Hörspiele, Lieder. Der mit zahlreichen Literaturpreisen bedachte Autor hat sich als Interpret antiker und heimischer Sagenstoffe einen Namen gemacht, und er kennt sich bestens in der Geschichtenwelt der Bibel aus.
Köhlmeier erzählt seine ganz eigene Geschichte vom Heiligen Antonius
Der Schriftsteller Michael Köhlmeier ist ein Wanderer zwischen den verschiedensten literarischen und historischen Welten. In seinen Romanen lässt er Winston Churchill und Charlie Chaplin sich begegnen, mal befinden wir uns im ungarischen Kommunismus der fünfziger Jahre, dann wieder im Hier und Jetzt. In "Der Mann, der Verlorenes wiederfindet" tritt der Autor nun eine etwas längere Zeitreise an, um den Lesern wiederum zu zeigen, wie gegenwärtig auch diese Vergangenheit ist.
1231: Antonius ist dem Tod nahe und erinnert sich
Wir befinden uns im heißen Juni des Jahres 1231. Der Wanderprediger Antonius hat seine letzte Reise angetreten, er möchte in Padua sterben. Doch auf dem beschwerlichen Weg wird der Schwerkranke auf dem Klosterplatz des Vororts Arcella ohnmächtig. Als er noch einmal das Bewusstsein erlangt, sieht er die vielen Menschen, die ihm gefolgt und neugierig sind, ob er noch einmal zu ihnen spricht. Denn Antonius, der bald zum Heiligen gemacht wird, ist ein Meister der Redekunst, angeblich sollen selbst die Fische seinen Predigten andächtig gelauscht haben. Tatsächlich enthalten seine Reden, die in Stichworten und Skizzen überliefert sind, anschauliche Bilder aus der Natur und dem Alltag der Menschen. Es sind Texte, die, anders als damals üblich, ganz auf Polemik gegen Ungläubige verzichtet.
Diese Widersprüche im historischen Bild vom Heiligen Antonius nutzt Michael Köhlmeier, um eine ganz eigene Geschichte zu erzählen. Sterbenskrank vor dem Kloster liegend, zweifelt der Mönch nämlich am Glauben. Was eine unerhörte Begebenheit! Und aus einer Heiligengeschichte wird ein dicht erzähltes Liebesdrama. Denn geprägt hatte den kleinen Antonius, der vor seinem Leben als Mönch noch Fernando hieß, weniger die Bibel als sein Großvater, von dem es heißt: „er war einer, der gern liebte und gern dachte und lachte, aber nicht kämpfte.“
Antonius wird ein höchst kritischer Augustiner
Der Großvater lebt "in Sünde" mit einer Schwarzen und ihrer Tochter Bassima. Und wie der Opa, so auch der Enkel. Fernando verliebt sich in Bassima, und, so heißt es pathetisch und schön in dem Text: "Sie versprachen sich gegenseitig ihr Leben. Sie versprachen sich, auf einander aufzupassen und einander immer schön zu finden." Doch der Großvater stirbt und Fernando kann sich und seine junge Liebe nicht gegen den Vormund durchsetzen. Mit 15 Jahren wird er zu den Augustiner Chorherren geschickt. Aus Fernando wird Antonius, ein Mann, der zeitlebens die Vorstellungen von der Welt, wie sie in der Bibel ausgebreitet werden, und die Urteile, die Glaubensbrüder darüber fällen, nicht kritiklos übernehmen will.
Köhlmeier verbindet Fiktion mit Fakten
Die Verlusterfahrung in früher Jugend machte ihn zu einem eigenständigen Denker, gab ihm das Sendungsbewusstsein, das er brauchte, um auf seiner Mission zu bestehen, um die verlorenen Seelen, zu denen auch er gehört, einzusammeln und ins Leben zurückzuführen. Tatsächlich hat er auch kurz vor seinem Tod noch einmal eine große Rede gehalten, von denen die einen meinen, er habe über den Hass und das Nichts gesprochen, andere wiederum erzählen, dass es nur um die Liebe gegangen sei, die, "wenn sie ehrlich empfunden werde, mit keinem irdischen Maßstab gemessen werden dürfe, denn sie sei nicht von dieser Welt." Im Traum vor dem Tod erscheint dann auch Bassima wieder, und so findet der heilige Antonius, der alles andere als heilig, sondern vor allem ein vernunft- und gefühlsbegabter Mensch war, zu seiner Liebe zurück.
Michael Köhlmeier erzählt aus den Bruchstücken einer Biographie ein historisches Märchen und spielt dabei auf außergewöhnlich bruchlose Weise mit Fiktion und Fakten und bringt uns dabei ganz grundsätzliche Fragen näher: Warum gibt es das Böse in der Welt? Wie viel Wahrheit steckt in einem Text oder in der Rede?
Weder Glaube noch Theologie, sondern – die Liebe
Antonius findet weder im Glauben noch in der theologischen Auslegung sein Seelenheil. Hoffnung spendet ihm bei Köhlmeier nur das Hohelied der Liebe. Antonius ist nicht nur der Patron der verlorenen Gegenstände, sondern wird in der römisch-katholischen Kirche auch verehrt, weil er bei der Partnersuche helfen soll. Sogar Single-Wallfahrten nach Padua werden angeboten. Jenseits vom Kitsch des Kultes aber erinnert uns Köhlmeier mit seinem Antonius sowohl an die Menschlichkeit des Zweifelns als auch an das Urmotiv des Christentums, nämlich an die Nächstenliebe, die keine Glaubensunterschiede kennt.