Große Wortkunst: Die Nobelpreisträgerin Herta Müller sammelt Wörter. Sie schneidet sie aus Zeitschriften aus und setzt die Fundstücke neu zusammen. So entstehen Collagen von poetischer Materialität.
Inspiriert durch den Überfluss an Zeitschriften
Als Herta Müller 1987 aus Rumänien nach West-Deutschland übersiedelte, hatte sie zuerst mit dem Überfluss zu tun, der auch ein Überfluss an Zeitungen und Zeitschriften war.
Die Wörter waren öffentlich, sie lagen offen herum, und Herta Müller begann damit, sie zu sammeln, indem sie sie ausschnitt.
Aus den Wörtern wurden Collagen, aus dem Zeitvertreib wurde Poesie. „Im Heimweh ist ein blauer Saal“ heißt ihr neuer Band.
Ist das schon ein Gedicht? Herta Müller sammelt Wörter und spießt sie auf wie tote Käfer. Sie findet sie in Zeitungen und Zeitschriften, unterwegs oder zu Hause, denn die Welt ist voller Wörter.
Die Wörter sind zugleich Bilder
Sie sind bunt, mal groß, mal klein, mal in Schreibschrift, mal in Versalien. Jedes einzelne Wort hat seine besondere Gestalt und also seine Dinglichkeit. Herta Müller schneidet die Wörter, die sie findet, aus, sammelt sie und baut daraus ihre Collagen. Das sind Bilder aus Wörtern. Es reicht nicht aus, sie zu hören. Man muss sie auch sehen.
Aus einem Wort folgt das nächste. Aber nicht, weil der Satz schon feststünde, sondern gerade weil der Sinn von Wort zu Wort springt und mit jedem Fundstück eine Überraschung erlebt.
Die Wörter werden befreit vom Zwang der Bedeutungszusammenhänge
Diese Gebilde zertrümmern den logischen Zusammenhang und die lyrische Erwartungshaltung. Sie lassen die einzelnen Wörter frei, behandeln sie als Lebewesen.
Was ist ein Gedicht – und wie entsteht es? Herta Müllers Collagen geben darauf eine eigene, besondere Antwort.
Die Eingebung stammt nicht aus einer wie auch immer gearteten Seelentiefe oder aus dem göttlichen Funken der Inspiration, sondern wächst aus den ganz äußerlichen Gegebenheiten.
Manchmal tritt die Dichterin zu stark in den Vordergrund
Wenn daran etwas stört, dann eigentlich nur, dass Müller dabei oft noch zu sehr einem Sinn oder einer Pointe hinterherläuft. Dann übernehmen eben nicht die Fundstücke die Führung, sondern die Dichterin, die sich von ihrem Schnipsel-Spiel zu brauchbaren Resultaten leiten lassen will.
Wie bei jeder guten Kunst gilt aber auch hier, dass man die Absicht nicht bemerken darf.
Verse und Zeilenfall gibt es in diesen kompakten Schrift-Bildern ebenso wenig wie Satzzeichen, die allenfalls als Restmüll und ohne Rücksicht auf die Syntax an einzelnen Partikeln hängen geblieben sind.
Die Herkunft der Schnipsel spielt keine Rolle
Manchen Wörtern ist ihre Herkunft noch anzusehen. Sie lassen erkennen, ob sie aus der dicken Schlagzeile einer Boulevardzeitung stammen oder aus seriöseren Quellen. Doch hier finden sie zusammen, unabhängig davon, ob sie einmal laut oder leise gedacht waren, ob sie in einem zärtlichen oder in einem vulgären Kontext standen.
Diese Wörtercollagen wirken wie die bunte Kinderschar auf einem Schulhof, wo Herkunft und Hautfarbe keine Rolle spielen.
Neu ist das Verfahren nicht, das auf latent gesteuerten Zufallsfunden beruht. Herta Müller hat schon einige Bücher nach diesem Prinzip gemacht.
Die kreative Arbeit soll den Kopf lockern
Es sind immer Zwischenwerke, die längere Pausen in ihrem Schaffen überbrücken und vielleicht auch dazu dienen, neue Ideen entstehen zu lassen, den Kopf zu lockern, weil er währendddessen nicht viel zu tun bekommt.
Begonnen hat sie damit, als sie 1987 aus Rumänien nach Deutschland übersiedelte. Weil sie die verbreiteten Ansichtskarten mit ihren künstlichen Farben so grässlich fand, kaufte sie sich Karteikarten und beklebte sie mit ihren Wörtern.
Doch was harmlos begann, wuchs sich mehr und mehr zu einem ernsthaften Unternehmen aus.
Wörter werden zu Werkstücken
Zunächst reichte noch ein Küchenbrett, um die ausgeschnittenen Wörter abzulegen. Bald bekamen sie einen eigenen, quadratischen Tisch, doch weil es immer mehr wurden und weil die herumliegenden Wörterschnipsel verstaubten und verklebten und zu Tausenden weggeworfen werden mussten, kamen sie schließlich in ein Wörterschränkchen mit Schubladen.
Das Arbeitszimmer wurde zur Werkstatt, in der Gedichte zusammengeleimt werden. Eine Voraussetzung der Collagen ist die Vielfalt der bunten Pressewelt, in der es so unterschiedliche Erscheinungsweisen einzelner Wörter gibt und nicht bloß graues Papier.
Der Überfluss der Wörter als Bild für die Redefreiheit
Der Überfluss und der Glanz der gedruckten Wörter habe, wie Müller in einem kleinen Vorwort erklärt, auch mit der Lust daran zu tun gehabt, dass sie im Westen offen herumliegen dürfen.
Ihre Vielfalt sei das Gegenteil von Zensur. Das ist aber der einzige konkrete politische Anlass dieses Spiels.
Schere und Klebstoff sind sehr besondere Schreibwerkzeuge
Dichten mit Schere und Klebstoff ist etwas anderes als Schreiben. Anders als am Bildschirm ist ein Wort, wenn es aufgeklebt wurde, nicht wieder zu verrücken. Und anders als in einem getippten Text bleibt jedes einzelne Wort ein Individuum.
Man kann sich leicht vorstellen, dass diese Wörter nicht nur Form und Farbe und Hintergrund besitzen, sondern vielleicht auch einen Geruch und eine besondere, fühlbare Konsistenz. Dann wäre Sprache tatsächlich eine eigene Welt, irgendwo da draußen.
Das gedruckte Buch wäre dann nur ein Notbehelf. Man müsste hinüberspringen und Eintauchen in die Zwischenräume zwischen den Wörtern.
Herta Müller macht auch diese Lücken sichtbar. Da wird die Zeit zum Raum. Es gibt nichts zu verlieren aber sehr viel zu finden in diesen bunten Sprach-Bildern.