Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
Colson Whiteheads Roman "Underground Railroad" überrollt die Leserschaft mit einer erzählerischen Wucht. Die junge Sklavin Cora flieht von einer Baumwollplantage, wo sie ein menschenunwürdiges Dasein fristet. Der Drang der Heldin nach Freiheit ist grenzenlos, aber weil Cora zu oft an das Gute im Menschen glaubt, wird ihre Irrfahrt auf der Underground Railroad - einem geheimen Netzwerk von Gegnern der Sklaverei - viel länger dauern, als sie es selber für möglich gehalten hat. Der ROman wurde mit dem Pulitzer-Preis 2017 ausgezeichnet.
Wenn man sich die Lebensgeschichte des 1969 in New York geborenen Schriftstellers Colson Whitehead anschaut, dann mag man kaum glauben, dass eine solche Karriere in den Vereinigten Staaten noch wenige Jahrzehnte zuvor nicht möglich gewesen wäre:
Er wuchs in Manhattan in einer Familie der oberen Mittelschicht auf, besuchte die renommierte Trinity School und studierte anschließend in Harvard. Er schrieb für die New York Times und lehrte an den besten Universitäten der USA, unter anderem in Princeton, Columbia und Richmond.
Sechs Romane hat er bislang veröffentlicht und dafür zahlreiche Preise erhalten. Im vergangenen Jahr ist sein Roman „Underground Railroad“ mit dem Pulitzer Prize for Fiction und mit dem National Book Award ausgezeichnet worden.
Ein Untergrundnetzwerk kämpft gegen unmenschliche Lebensbedingungen
Der Roman betreibt zunächst einmal historische Aufklärung, indem er an ein geheimes Netzwerk erinnert, mit dessen Hilfe Sklaven noch vor dem amerikanischen Bürgerkrieg aus den Südstaaten in den Norden geflüchtet sind. Gegen die unmenschlichen Lebensbedingungen auf den Plantagen im Süden kämpften damals nicht nur „befreite“ Schwarze, sondern auch weiße Amerikaner, für die Sklaverei im Widerspruch zum Gleichheitsversprechen der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und auch zum christlichen Glauben stand.
Die Fluchtrouten waren streng geheim, und es galt der Code der Eisenbahn. Helfer wurden „Zugführer“ oder „Schaffner“ genannt. Die Geflohenen hießen „Passagiere“ oder auch „Gepäck“, die zum nächsten „Bahnhof“ gebracht werden mussten. Daher die Bezeichnung „Underground Railroad“. Echte Eisenbahnlinien im Untergrund hat es im weitverzweigten System der Helfer hingegen nicht gegeben.
Töten oder selbst am Galgen landen
Die Flucht auf diesen Routen, die sich ständig veränderten, war für alle Beteiligten lebensgefährlich. Wer im Süden enttarnt und gefasst wurde, landete am Galgen. Das galt für Weiße genauso wie für Schwarze. Trotzdem haben viele tausend Sklaven auf diesem Weg in die Freiheit gefunden.
So macht sich in Colson Whiteheads Roman auch die junge Heldin Cora auf den Weg. Ihr Dasein auf einer Baumwollplantage in Georgia ist so unerträglich, dass sie ihren eigenen Tod in Kauf nimmt. Tatsächlich tötet sie auf der Flucht einen jungen Burschen, der sie zurück auf die Farm bringen möchte.
Die Protagonistin durchlebt nicht enden wollende Torturen
Cora erlebt eine Reise durch die Hölle des Rassismus, wobei wir als Leser bei jeder Etappe denken, jetzt müsse es die geplagte Flüchtige doch endlich geschafft haben, um dann doch eine weitere Tortur durchzumachen. Dabei werden die geheimnisvollen Stationen auf der „Underground Railroad“ in einem phantastischen Thomas-Pynchon-Stil erzählt; zuweilen denkt man auch an die düsteren Türsteher in Kafkas „Das Schloss“.
Denn Colson Whitehead nimmt die Rede von der unterirdischen Eisenbahn wörtlich und hyperrealistisch zugleich. Die Heldin ist in dem Roman auf endlos langen Schienenwegen in dunklen Tunnelsystemen unterwegs, womit der Text eine sehr bedrückende, weil zeitlose Flucht-Allegorie anbietet.
Dokumentarische Erzählmomente verstärken die Dramatik der Fiktion
Es gibt noch weitere, nämlich dokumentarische Erzählmomente, welche die Dramatik der Fiktion verstärken. Zum einen bezieht sich der Roman auf die sogenannte slave narrative, also auf Erfahrungsberichte von Schwarzen aus dieser Zeit. Zum anderen werden überlieferte Suchmeldungen in den Text eingestreut, die von dem abstoßenden Menschenbild der Sklavenhalter zeugen. Da liest man zum Beispiel unter der Überschrift „25 Dollar Belohnung“:
Es gab Heerscharen von skrupellosen Sklavenfängern, die scharf waren auf solche Belohnungen und die Freude empfanden, wenn die Flüchtigen nach der Gefangennahme gequält, verstümmelt und umgebracht wurden. Cora wird, da ihre Flucht den egomanen Plantagenbesitzer Randall in den Wahnsinn treibt, schließlich von einem ganz besonders fiesen Vertreter dieses kriminellen Berufstandes gejagt, nämlich von Ridgeway und seiner blutrünstigen Truppe.
Dieser Mann ist eine in seiner Bestialität so gebrochene und damit starke Figur, dass man sich fragt, warum der Kerl nicht schon viel früher in dem Roman als zentraler Gegenspieler zur leuchtenden Cora eingeführt wird.
Die erzählerische Wucht des Romans zieht den Leser sofort in seinen Bann
Weil die kleinen strukturellen Mängel bei einer ersten Lektüre im Grunde gar nicht auszumachen sind, wird man von der erzählerischen Wucht des Romans überrollt. Der Drang der Heldin nach Freiheit ist grenzenlos, aber weil Cora zu oft an das Gute im Menschen glaubt, wird ihre Irrfahrt auf der Underground Railroad länger dauern, als sie es selber für möglich gehalten hat. Unsentimental und mit erschreckender Genauigkeit werden schlimmste Quälereien und rassistische Massenmorde erzählt, die Cora auf ihrer Flucht erlebt und die – auch das zeigt Whitehead – bis heute die amerikanische Gesellschaft prägen.
Es ist eine große literarische Kunst, aus einem solchen Thema einen guten und auch unterhaltsamen Roman zu machen. Das Buch ist ein neudeutsch gesprochen "pageturner", und auch mit dieser Qualität ist der große Erfolg des Romans in den USA zu erklären.
Kritiker, Juroren und Leser sind sich ausnahmsweise mal einig. Der Siegeszug dieser literarischen Untergrundbahn wird sich auch hierzulande fortsetzen, weil Colson Whitehead ein anspruchsvolles und gleichsam leicht verständliches Manifest für die Menschlichkeit geschrieben hat.
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