Aus dem Englischen von Anette Grube und Dirk van Gunsteren
Die Erzählungen in T. Coraghessan Boyles neuem Buch "Good Home", das von Anette Grube und Dirk van Gunsteren ins Deutsche übertragen wurde, bringen trotz der großen Kunst, die in ihnen steckt, die Wechselfälle des Lebens so umstandslos nahe wie die vermischten Nachrichten in den Zeitungen.
In Altpapier werden sie sich allerdings mit Sicherheit niemals verwandeln. Von Boyle könnten Außerirdische Entscheidendes und oft sehr Aktuelles über das Erdenleben unserer Zeit erfahren und wir Zeitgenossen erhalten faszinierende Einblicke in unerhörte aber auch sehr gewöhnliche Begebenheiten. Das ist großartige Erzählkunst.
Meister der Vielfalt
T.C. Boyle ist ein Meister der Vielfalt, und das nicht nur hinsichtlich seiner Themen. Literaturwissenschaftler haben seinem Stil eine Verwandtschaft nicht nur mit dem Postmodernismus und dem Magischen Realismus attestiert, sondern auch mit der realistischen Erzählkunst des 19. Jahrhunderts. Zugleich fehlt es ihm weder an Gespür fürs Komische und Groteske noch für moralische Problemstellungen. Und dennoch ist er keiner, der die Geduld seiner Leser mit hochfahrenden Ambitionen strapazieren würde.
Nein, der 1948 im Bundesstaat New York geborene Sohn einfacher Leute, der als Problemkind aufwuchs, verstand es von Anfang an, seine Leser zu fesseln, ebenso mit seinen Romanen wie mit seinen Erzählungen. Seine Stories erscheinen in populären Magazinen wie dem New Yorker, Harper’s oder The Atlantic, in denen die Kultur der Kurzgeschichte immer noch quicklebendig ist.
Auf deutsch erscheinen nun die Geschichten aus dem ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts in einem Sammelband aus dem Carl Hanser Verlag. Er trägt den Titel „Good Home. Stories“ und wurde übersetzt von Anette Grube und Dirk van Gunsteren. Wer T.C. Boyle liest, kommt weit herum und lernt die verschiedensten Menschen kennen, vor allem in den USA, doch nicht nur dort.
Ein Kurierfahrer als Retter einer Familie
Zum Beispiel Gordon, der jeden Tag als Kurierfahrer auf den kalifornischen Küstenstraßen unterwegs ist. In ihm kocht die stille Wut derjenigen, denen das Leben nie etwas schenkt, dafür aber ständig die Nerven und manch anderes raubt. Im Geheimfach seiner Fahrertür hat er eine 9mm-Glock-Pistole, mit der er, wie er betont, allerdings erst ein einziges Mal geschossen hat, als ihm einer dieser riesigen Geländewagen in die Quere kam.
Trotzdem ist Gordon nicht nur ein schlechter sondern auch ein guter Kerl, je nachdem, was die Umstände gerade aus ihm herausholen. Als er eines Tages in eiliger Mission mit einer Spenderleber für eine Transplantation unterwegs ist, wird er von einem Erdrutsch aufgehalten. Und obwohl ihn das mit seinem Auftrag in einen unlösbaren Konflikt bringt, lässt er sich nicht lange bitten, einer Frau bei der Rettung ihrer Familie zu helfen.
T.C. Boyle veröffentlichte die Erzählung mit dem Titel „La Conchita“ 2005 im „New Yorker“ kurz nachdem tatsächlich genau so eine Schlammlawine auf den gleichnamigen Ort zwischen Los Angeles und Santa Barbara niedergegangen war. Nun findet sich diese Geschichte neben neunzehn weiteren Short Stories in dem Sammelband mit dem Titel „Good Home“.
Ein Ehemann, der seine Existenz kaputt lügt
Ein anderer, auf den man hier trifft, ist Lonnie, der Ehemann einer emsigen Jurastudentin und Vater einer kleinen Tochter. Er ist erst Mitte zwanzig und trotzdem von der familiären Alltagsroutine und seiner eintönigen Arbeit als Protokollant von Filmmaterial bereits so erschöpft, dass er sich mit einer Lüge bei seinem Chef entschuldigt. Und dann nochmal und wieder und einen weiteren Tag, wobei er die Lüge weiterspinnt, bis alles auffliegt und er entdecken muss, dass er seine ganze Existenz kaputtgelogen hat.
Handlungen, die sich direkt beim Nachbarn ereignet haben könnten
Auch wenn es keine neue Erkenntnis ist, sei es wiederholt: T.C. Boyle ist ein brillanter Erzähler, sowohl auf der langen, wie der kurzen Strecke. Zudem versteht er es hervorragend, den Lauf der Handlung immer wieder ins Unverhoffte voranzutreiben. Von ihm könnten Außerirdische Entscheidendes und oftmals sehr Aktuelles über das Erdenleben unserer Zeit erfahren und wir Zeitgenossen erhalten faszinierende Einblicke in unerhörte aber auch sehr gewöhnliche Begebenheiten.
Schon die Handlung der ersten Erzählung könnte sich direkt bei den Nachbarn von Familie Jedermann ereignet haben: Ein Vater und seine minderjährige Tochter bauen mit dem Auto auf dem Heimweg von der Schule einen dummen Unfall und Boyle macht daraus eine tiefen-scharfe Momentaufnahme von den vernichtenden Verhängnissen, die im ganz durchschnittlich verfahrenen Familienleben lauern können.
Die perfekte Kopie eines Hundes
Viele der Stories leuchten mal grell, mal subtil das soziale Geschehen im kalifornischen Umfeld aus, wo Boyle in der Nähe von Santa Barbara lebt. Eher grell erscheinen jedenfalls die Erlebnisse der Afroamerikanerin Nisha. Sie erhält von den Strikers das Angebot, bei ihnen unbedingt wieder, wie schon einmal in früheren Jahren, als Hundesitterin zu arbeiten.
Und warum? Weil das reiche Anwaltsehepaar seinen neuen Windhund für irrwitziges Geld mit dem Genmaterial des Vorgängers hat klonen lassen. Und nun soll das Tier durch die gleiche Betreuerin auch in seinem Verhalten zur perfekten Kopie werden. Das Ende der Geschichte lässt nichts Gutes ahnen.
Der Humor kommt bei Boyle nicht zu kurz
So richtig zufriedenstellend läuft es auch nicht für die Dame, die sich zur Verbesserung ihrer Chancen bei der Partnersuche eine kleine Botox-Behandlung gönnt. Dummerweise kommt sie auf die Idee, sich der Einfachheit halber auch gleich den Schönheitschirurgen zu schnappen. Doch der bevorzugt leider Frauen, an denen er etwas umfangreichere
Überholungsmaßnahmen vornehmen konnte.
Aus einem deprimierenden Stimmungstief in jubilierende Höhen führt dagegen die Show-Biz-Geschichte mit dem bedrohlichen Titel „Drei Viertel des Wegs zur Hölle“. Da treffen sich im regnerischen Halbdunkel ihrer prekären Musikerexistenz Darlene und Johnny in einem kleinen Studio, um sich als Gesangs-Duo für eine Klingeling-Weihnachtsplatte die letzte Demütigung des Jahres reinzuziehen. Und dann, auf einmal, fangen sie an, abzuheben und alle Mickrigkeit hinter sich zu lassen.
Ein Leben im Ganzen auf einen Nenner gebracht
Manche Erzählungen, wie diese, entsprechen der klassischen Charakterisierung der Kurzgeschichte als „a slice of life“, als eines kurzen aber bezeichnenden Ausschnitts aus dem Leben. Andere dagegen bringen ein Leben im Ganzen auf einen Nenner wie im Falle des mexikanischen Jungen, der auf Grund einer neurologischen Abnormität keinen Schmerz empfindet, dem aber das Herz bricht, als er deshalb zur Jahrmarktsattraktion gemacht wird.
Es gibt Schriftsteller wie Philip Roth, bei denen ist immer eine Verwandtschaft mit ihren Figuren zu spüren. Andere wie John Updike oder T.C. Boyle, besitzen die Fähigkeit, mit eminent beweglichem Einfühlungsvermögen die allerverschiedensten Typen und Charaktere zu vergegenwärtigen. Ganz zu schweigen von der großen szenischen Vorstellungskraft, mit der Boyle Situationen und Räume von unerhörtem gegenständlichen und atmosphärischem Reichtum aufbaut.
Immer wieder hat er dabei den Finger am Puls der Zeit. Zum Beispiel wenn es um die nicht selten knallharten Frontbildungen beim Kampf um die ökologische Weltverbesserung geht.
Oder bei dem sehr amerikanischen Konflikt der christlichen Kampagnen gegen die Evolutionstheorie. Davon handelt die lange Erzählung mit dem Titel „Hieb- und stichfest“, die mitten hinein führt in die Zonen religiöser Geistesvernebelung. In einem Provinzstädtchen treffen bei einer Sitzung des Schulbeirats die Gottesgläubigen und die Anhänger der Wissenschaft aufeinander.
Von zwölf weiteren Geschichten war hier noch gar nicht die Rede. Sie bieten nicht weniger Lesefreuden als die erwähnten. Trotz der großen Kunst, die in ihnen steckt, bringen uns T.C. Boyles Stories die Wechselfälle des Lebens so umstandslos nahe wie die vermischten Nachrichten in den Zeitungen. In Altpapier werden sie sich allerdings mit Sicherheit niemals verwandeln.