Der Schriftsteller Thommie Bayer erzählt in seinem neuen Roman „Das innere Ausland“ von einem Mann, dessen Leben aufs Abstellgleis geraten ist.
Der melancholische Sound, die schlichte Sprache, in der komplexe und heikle Gefühlslagen ausgedrückt werden, die hintergründige Psychologie, die sich weniger durch analytische Kommentare als durch die Feinheiten der Darstellung vermittelt – das sind die Qualitäten des Erzählers Thommie Bayer.
Thommie Bayer verbindet Unterhaltsamkeit mit literarischem Anspruch
Thommie Bayer, 1953 in Esslingen geboren, hat erst Malerei studiert, dann lange als Musiker und Liedermacher sein Geld verdient. Nach einer Lebenskrise wandte er sich dem Schreiben zu – und veröffentlicht nun seit zwei Jahrzehnten regelmäßig im Abstand von ein, zwei Jahren seine Romane, die Unterhaltsamkeit mit Anspruch verbinden.
Sein neues Buch „Das innere Ausland“ spielt hauptsächlich in Südfrankreich und handelt von einem Mann, dessen Leben aufs Abstellgleis geraten ist. Neuer Anfang dringend gesucht.
Eine provenzalische Idylle gerät in Schieflage
So lässt man sich den Ruhestand gefallen: Ein geschmackvoll eingerichtetes Haus in der Provence, umgeben von Olivenfeldern, dazu ein Garten im Schatten einer Pinie, ein paar gute Flaschen Wein im Keller und ein wohlbestücktes Lesezimmer.
Eine Hälfte dieses Anwesens bewohnt Andreas Vollmann, ein pensionierter Eisenbahner, die Hauptfigur des Romans. Es wäre aber kein Roman, wenn dieses Idyll nicht Schieflage hätte, und zwar nicht nur, weil der Hund des Nachbarn ein neurotischer Dauerbeller ist:
Nach einem Schicksalsschlag kapselt Vollmann sich ab
Gerade ist der einzige Mensch an Krebs gestorben, dem Andreas Vollmann noch eng verbunden war: seine vier Jahre jüngere Schwester Nina, mit der er das Haus teilte. Sein Berufsleben als Nachtzugschaffner, begonnen mit der Hoffnung auf Weltläufigkeit und romantische Abenteuer, war enttäuschend verlaufen. Die Beziehungen mit Frauen ebenso.
Nun hat sich der Mittsechziger verkapselt in seiner provenzalischen Idylle, hat sich als existentieller Exilant eingerichtet im „inneren Ausland“, wie er sein Lebensgefühl einmal benennt. Auch mit der Sprache gibt er sich nicht viel Mühe, belässt es lieber bei einem rudimentären „Einkaufsfranzösisch“, das ihm unangenehme „Zwischentöne und Nebengeräusche“ in der menschlichen Kommunikation erspart und es bei einer distanzierten Freundlichkeit belässt.
Kurz: Andreas Vollmann pflegt die kultivierte Resignation auf der Schwelle zur Misanthropie.
Eine neue Frau tritt in Vollmanns Leben
Doch dann geschieht das Unerwartete: Besuch und Verwandtschaft stellen sich ein, in Gestalt seiner vierzigjährigen Nichte Malin, von der Andreas bis dahin überhaupt nichts wusste. Sie ist eine Bankangestellte und hat gerade ihren Mann verlassen.
Dass seine Schwester Nina ihm die Existenz ihrer Tochter verheimlicht hat, ist für Andreas Vollmann verstörend:
Eine Familiengeschichte, geprägt von Heimlichkeiten
So wenig kennt man selbst die allernächsten Menschen. Es ist viel Verschwiegenes, Verheimlichtes in Thommie Bayers Roman. Und viel Familiendrama. In Rückblenden wird die Geschichte von Andreas und seiner Schwester Nina erzählt. Schon in der Kindheit haben sie schreckliche Erfahrungen gemacht.
Erst starb ihre Mutter bei einem Autoanfall (an dem die Kinder eine gewisse Mitschuld trugen), bald darauf der Vater an einer heimtückischen Krankheit. Die Geschwister wuchsen getrennt bei Pflegeeltern auf, und dennoch entstand zwischen ihnen eine Vertrautheit, die über gewöhnliche Geschwisterbande hinausging.
Aber was hat es nun mit der verheimlichten Tochter und Erbin auf sich, die bald nach dem Tod der Schwester bei Andreas in der Provence auftaucht?
Das Kind seiner Schwester wurde gestohlen
Es gab ein weiteres Trauma in Inas Leben. Damals, in den verwilderten siebziger Jahren, lebte sie in einer amerikanischen Hippie-Kommune. Sie wurde schwanger, aber bei der Geburt gab es Komplikationen, sie fiel für Wochen ins Koma, und später erzählte man ihr, das Kind sei gestorben.
In Wahrheit hatte ein Paar mit dem entwendeten Baby die Kommune verlassen. Jahre später erfuhr Ina von diesem ungeheuerlichen Betrug und machte mithilfe eines Detektivs das Paar in Deutschland ausfindig. Aber dann wagte sie es doch nicht, die inzwischen zehnjährige Malin aus der falschen Familie herauszureißen.
In einem Rechenschafts-Brief an die Tochter, der sich im Nachlass findet, vergegenwärtigt Nina ihr Dilemma:
Enttäuschung und Verlust sind die Leitmotive dieses Romans
Unerkannt suchte Nina fortan die Nähe der Tochter, wo und wann immer sie konnte, mischte sich in Schultheater-Aufführen oder saß ein paar Tische entfernt von ihr in Cafés. Sie wurde zur melancholischen Beschatterin ihres Kindes und richtete sich in ihrer Unglücksgeschichte ein, ohne je auch nur ein einziges Wort mit ihrem Bruder darüber zu sprechen.
Enttäuschung und Verlust sind Leitmotive dieses Romans. Genauer: Es ist eine einzige Verkettung von Verlusten. Thommie Bayer serviert eine Doppelpackung Schicksal, aber ohne dass es melodramatisch oder unglaubwürdig würde.
Die Vergangenheit offenbart das wahre Gesicht der Menschen
Das liegt nicht zuletzt an der kontrastierenden ruhigen Gegenwartshandlung des Romans, die den neuen gemeinsamen Alltag von Andreas und Malin zeigt, Gespräche, Kochen, Gartenarbeit, Spaziergänge durch die südfranzösische Umgebung.
Wir erleben besonnene Menschen in der Bemühung, mit den unverhofften Wendungen ihres Lebens klar zu kommen. In diese Passagen werden die schicksalsträchtigen Rückblenden eingefügt und Stück für Stück die Lebensgeschichten der Figuren erzählt, so dass sie sich allmählich wie ein Mosaik zusammenfügen.
Souverän spielt der Autor mit den Erwartungen der Leser
Thommie Bayer war in seinem Vorleben zwar nicht Schlafwagenschaffner, aber ein sensibler Liedermacher, der mit seiner Band ein halbes Dutzend Schallplatten aufnahm und gelegentlich auch in Dieter Thomas Hecks Hitparade auftrat. Lang ists her.
Auch als Autor von mittlerweile achtzehn Romanen hat er sich einen gewissen Ruf als Romantiker und Frauenversteher erarbeitet. Gerade deshalb darf man feststellen: „Das innere Ausland“ ist angenehm frei von Schlager-Süßlichkeit und Liebesgesäusel.
Im Gegenteil: Geschickt spielt Bayer diesmal mit der Erwartung der Leser, die bei der Ankunft Malins womöglich damit rechnen, nun werde eine unerlaubte Liebe zwischen Onkel und Nichte schwül in Szene gesetzt. Dieser Triebwagen wird zum Glück nicht aufgegleist.
Das Schöne ist gerade, dass Bayer die große Nähe und Verbundenheit der beiden Figuren glaubhaft machen kann, ohne dafür Liebe und Leidenschaft, die üblichen Bindemittel in Romanen, in Anspruch zu nehmen. Andreas hat die große Liebe im Übrigen nie kennengelernt, auch wenn der ihm vom Autor zugeteilte Beruf als Chiffre der Sehnsucht zu verstehen ist:
Auch die Nichte erwartet ein Kind
Teilhabe, wenn man so will, wird ihm nun auf ganz andere und unerwartete Weise noch spät zuteil. Denn Malin – noch eine Überraschung am Ende! – ist schwanger, und womöglich finden die beiden zu einem familiären Miteinander in ihren Haushälften.
Der melancholische Sound, die schlichte Sprache, in der komplexe und heikle Gefühlslagen ausgedrückt werden, die hintergründige Psychologie, die sich weniger durch analytische Kommentare als durch die Feinheiten der Darstellung vermittelt – das sind die Qualitäten des Erzählers Thommie Bayer.
Sie bewähren sich in seinem neuen Roman.