Seit 1950 wird der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels im Rahmen der Frankfurter Buchmesse vergeben, in diesem Jahr an die Journalistin und Publizistin Carolin Emcke. Bekannt wurde sie durch ihre Artikel und Kolumnen, derzeit für die „Süddeutsche Zeitung“, und Bücher wie „Weil es sagbar ist: über Zeugenschaft und Gerechtigkeit“. In der Begründung der Jury heißt es, sie leiste einen wichtigen Beitrag zum gesellschaftlichen Dialog und zum Frieden. Nun hat sie nicht nur diesen Preis erhalten, sondern auch ein neues Buch auf der Messe präsentiert: „Gegen den Hass“.
Wolfram Wessels im Gespräch mit Ulrich Teusch
Wolfram Wessels: Im ersten Teil ihrer Rede hat Carolin Emcke über den Begriff der Angehörigkeit nachgedacht und darüber, für Soziologen sicher keine ganz überraschende Erkenntnis, dass jeder Mensch sich einer anderen Gruppe angehörig fühlt und ihr von anderen auch zugerechnet wird. Aber, so sagt Emcke, das Problem heute sei, dass die so beschriebene Verschiedenheit als Argument für Ausgrenzung und Stigmatisierung benutzt würde. Im Buch schreibt sie, dass daraus Hass gegen Ausgegrenzte entstehen könnte. In ihrer Dankesrede habe ich das Wort „Hass“ nur einmal gehört. Hat sie die These ihres Buches für die Rede etwas abgeschwächt?
Ulrich Teusch: Nein, das würde ich nicht sagen. Ich glaube, dass der Begriff „Hass“ auch im Buch in einem sehr weiten Verständnis gefasst ist. Das kann Ausgrenzung sein, Mobbing, Diskriminierung, Benachteiligung, Verachtung, Ablehnung, vieles. Und ich habe damit auch zum Teil ein Problem gehabt, das jetzt alles unter den Begriff „Hass“ zu fassen, was sie da im Einzelnen vorträgt.
Aber entscheidend ist – und das ist, glaube ich, auch eine These mit der sie auf großen Widerhalt stoßen wird – zum einen die Beobachtung, dass es seit einiger Zeit, in Europa insbesondere, Bewegungen gibt, die sich auch politisch manifestieren bei Wahlen zum Beispiel, die auf Ausgrenzung setzen oder auf Modelle, die da sagen: „Ja, wir brauchen wieder mehr Authentizität in der Gesellschaft, wir müssen zurück zur Nation, zum Reinen, weg vom Heterogenen“ und vieles andere und was dazu führt, dass man andere eben ausgrenzt, oder so eine innergesellschaftliche Feinderklärung macht.
Carolin Emcke plädiert für das, was lange in dieser Gesellschaft Konsens war: eine Art Verfassungspatriotismus, also eine Grundlage, wie in dieser Gesellschaft Menschen, die entweder so oder anders sind, miteinander umgehen sollten, eine politische und gesellschaftliche Geschäftsgrundlage, der sich alle fügen. Und dann eben die Möglichkeit haben als Individuen in dieser Gesellschaft jeweils nach ihrer Fasson selig zu werden. Das sieht sie im Moment gefährdet.
Sie schloss ihre Rede, wie auch das Buch mit einem großen Appell an die Zivilgesellschaft sich nicht wehr- und sprachlos machen zu lassen von den Fanatikern, Fundamentalisten, nennen wir sie doch beim Namen „Front National“ in Frankreich, die „AfD“ hier in Deutschland. Sie sprach von „lachendem Mut“, das war sehr sympathisch, aber ich fand - auch in der Rede - ein bisschen Allgemein. Wird’s in ihrem Buch denn konkreter?
Ja, es ist ein Dilemma: Einerseits ist es dieses Plädoyer für Toleranz, dafür dass jeder so sein soll, wie er eben ist, und dass man das aushalten muss. Auf der anderen Seite, beobachten wir, dass es eine größere Zahl von Menschen gibt, die sich daran nicht halten wollen. Wie gehen wir mit denen um? Sind wir denen gegenüber auch tolerant? Oder sagen wir: „Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit“. Ist es legitim zu sagen, das ist das Pack, das ist das Gesindel, der Mob, der Pöbel, oder muss man da sagen: „Halt, Schluss!“? Wenn wir diesen Anspruch haben, dann müssen wir uns auch mit diesen Leuten auf eine andere Art und Weise auseinandersetzen und in irgendeiner Form den Dialog suchen und sie integrieren.
Das ist auch der Anfang ihres Buches. Sie sagt: Wir dürfen dem Hass nicht mit Hass begegnen, sondern nur mit genauem Beobachten und Differenzieren.
Und da sehe ich das Problem. Die Botschaft höre ich, teile sie auch, aber ich sehe im Moment wenig Ansatzpunkte dafür, wie man das real umsetzen kann. Also wie soll man das stoppen, wenn Desintegration und Polarisierung und Fanatisierung mal in Gang sind und an Terrain gewinnen? Wie will man dann wieder in einen vernünftigen Dialog kommen? Da sind offenbar in der Vergangenheit Fehler gemacht worden, für die wir jetzt büßen. Jetzt ist es schwer zu einem neuen Konsens zu finden. Ich finde, dass da im Buch bei der Analyse manchmal ein bisschen was fehlt.
Also der Titel hat mich sehr angeregt und ich dachte an 9/11, wo ja zum ersten Mal die Frage aufgeworfen wurde: Woher kommt eigentlich der Hass, dass Terroristen zu solchen Taten fähig werden. Diese Frage ist mir leider bis heute nicht richtig beantwortet worden. Carolin Emcke liefert in ihrem Buch zwar ein paar Hinweise, aber ich finde auch keine richtig befriedigenden Antworten.
Gustav Heinemann hat mal gesagt: Wenn wir mit dem Finger auf einen anderen zeigen, zeigen immer drei Finger auf uns zurück. Also der Hass fällt nicht vom Himmel – oder besser gesagt: kommt aus der Hölle – und ist einfach so da. Er hat eine Geschichte und Ursachen.
Wenn Carolin Emcke zum Beispiel das Phänomen „Islamischer Staat“ thematisiert, sagt sie zur Genese des Islamischen Staates eigentlich nichts. Sie beschäftigt sich mit verschiedenen Manifesten, mit Ideologiekritik – durchaus substanziell und gut. Aber was die Genese des Islamischen Staates angeht, verweist sie mit einem Halbsatz auf die Kriege in Syrien und Irak. Das ist natürlich richtig, aber da hätte man sehr viel mehr zu sagen können.
Wenn man an Buchtitel von Lüders oder Scholl-Latour, „Fluch der bösen Tat“ oder „Wer den Wind sät“, denkt, dann kann man natürlich eine ganze Menge an Fragen aufwerfen.
Ein anderes Beispiel aus der Innenpolitik: Sie befasst sich über viele Seiten mit den Vorgängen in Clausnitz, wo dieser Flüchtlingsbus boykottiert und belagert wurde von Wutbürgern. Das ist eine sehr subtile, bedenkenswerte Analyse. Sie sagt dann aber an einer Stelle, dass in diesem Ort mal eine Fabrik stand, die jetzt leer ist und in diese Fabrik sollen jetzt die Flüchtlinge rein. Dann sagt sie kurz was zu dem, was da produziert wurde, dass dann Stellen abgebaut wurden und irgendwann die Fabrik vollkommen leergemacht wurde und nach Osteuropa abgewandert ist.
Dann stellt sie die Frage: Warum regen sich diese Leute jetzt über die Flüchtlinge auf? Warum haben sie sich nicht über die Manager aufgeregt, die ihnen die Arbeitsplätze weggenommen haben? Bei dieser Frage belässt sie es aber. Sie recherchiert nicht, ob sich die Leute vielleicht damals auch über die Manager empört haben und ob sie da eine Ohnmachtserfahrung gemacht haben, dass sie in ihrem Protest also nicht weiterkamen. Wenn es so gewesen wäre, würde das dann bedeuten: Sind sie mit ihren Sorgen alleine gelassen worden, fühlen sie sich ausgegrenzt, fühlen sie sich ungerecht behandelt? Die Folge davon ist, wenn man so etwas in einer Gesellschaft zulässt, dass sich dann so eine Sündenbockmentalität ausbreitet und man dann fragt: „Um uns habt ihr euch nicht gekümmert, aber um die kümmert ihr euch?“. Das ist dann die logische Folge. Eine Gesellschaft, die gerecht ist und in der sich jeder aufgehoben fühlt, die ist doch sehr viel weniger anfällig dafür, andere auszugrenzen.
Es fehlt Ihnen so ein bisschen die politische Dimension in ihrer Argumentation.
Wenn man was zum Positiven ändern will, muss man natürlich erst einmal eine wirklich bis zum letzten gehende, auch wehtuende Ursachenanalyse machen. Es gab auch ein bisschen Heuchelei – nicht bei Emcke, aber bei vielen anderen. Es gab in der Rede von ihr einen Punkt, wo sie daran erinnert hat, dass Martin Walser hier vor ein paar Jahren auch gestanden hat und dann mit dieser Auschwitz-Moralkeule kam...
... wofür es Applaus gab…
Genau und das hat sie scharf kritisiert. Damals wurde applaudiert und, soweit man das im Fernsehen sehen konnte, hat da eben nur Ignatz Bubis gesessen, schockiert, und hat nicht applaudiert. Heute hat sie das scharf kritisiert und hat auch dafür Szenenapplaus bekommen. Und ich habe mir gedacht, möglicherweise applaudieren jetzt da Leute im Publikum, die damals auch applaudiert haben, ist ja denkbar. Und da frage ich mich: Sind wir wirklich so ehrlich mit uns, wenn wir über solche Themen reden, dass wir wirklich an die Substanz gehen und wirklich an die Ursachen? Das müssten wir nämlich, wenn wir wirklich was zum Positiven ändern wollten.
Aber im Grunde genommen mahnt sie das ja an, sowohl in der Rede, als auch im Buch, dass Demokratie ein Prozess ist und nicht etwas ist, was man einmal hat. Oder: „Freiheit hat man nicht“, sagt sie einmal, „sondern Freiheit muss man tun“.
Ich stimme da ja zu. Ich glaube aber, es gibt viele Menschen, die sich auf irgendeine Weise bedroht fühlen, für die auch die Entwicklungen zu schnell laufen. Wenn bestimmte Entwicklungen sich langsamer vollzögen, hätten diejenigen, die damit Probleme haben, die Chance, sich dem peu à peu anzupassen. Ich glaube, dass viele durch die Beschleunigung, die sie da wahrnehmen total verunsichert sind und jetzt irrational zurückschlagen. Das ist, glaube ich, ein wichtiger Punkt: Intellektuelle haben mit Multikulturalität und Toleranz wahrscheinlich kaum Probleme, andere Menschen aber vielleicht schon eher.
Ihr Buch endet mit einem großen Appell an die Zivilgesellschaft, Hass zu bekämpfen. Kann das denn wirklich die politische Wirkung entfalten oder entfaltet das die politische Wirkung, die sich die sich die Verleiher des Friedenspreises womöglich von Carolin Emcke erwartet haben.
Ich glaube, dass man eine tiefergehende Ursachenanalyse betreiben muss. Politisch muss man die Rahmenbedingungen so verändern, dass solche Appelle eine größere Chance haben. realisiert zu werden. Ansonsten muss man wie Carolin Emcke mit Habermas, der ja einer ihrer Lehrer war, auf den „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ setzen. Solange nicht einer mit dem Baseballschläger kommt, bin ich immer bereit mit ihm zu reden und ich glaube auch, dass Argumente ziehen.