SWR2 Buch der Woche am 14.09.2015

Billy Hutter: Karlheinz

Stand
Autor/in
Zoe Beck

Billy Hutter erzählt mit dem Roman "Karlheinz" zwar eine traurige Geschichte, aber auch eine, die darüber aufklärt, was geschehen kann, wenn Eltern ihre Kinder zu sehr lieben und dadurch eine Erziehung zur Selbständigkeit verhindern.

Billy Hutter beschreibt das Leben von Karlheinz in Ludwigshafen an dessen Nachlass entlang. Den fand Hutter, weil er von Beruf Entrümpler ist. Und wo sich Lücken auftaten, spekulierte Hutter. So ist "Roman" schon der richtige Begriff für dieses Buch, das nicht nur die Geschichte eines Mannes erzählt, der Zeit seines Lebens nicht mit sich selbst und seiner Umwelt zurechtkam, bis er in den 80er Jahren unter bisher ungeklärten Umständen starb, sondern auch die Geschichte Ludwigshafens während Nazizeit, Zweitem Weltkrieg und Nachkriegszeit.

Karlheinz ist eher der unauffällige Typ. Als Kind hat er schon keine Freunde, als Student führt er diese Tradition fort, und auch als Laborarbeiter pflegt er keinerlei privaten Kontakt zu den Kollegen. Die wichtigsten Bezugspersonen sind seine Eltern, bei denen er zeitlebens wohnen wird. Die ältere Schwester empfindet er als störend, und nach ihrem Auszug aus der elterlichen Wohnung gehört sie für ihn endgültig nicht mehr wirklich zur Familie. Er hasst ihren Mann, und ihre Kinder interessieren ihn nicht. Seine Familie, das sind Papa, Mutti und er, Karlheinz, den Mutti liebevoll Bubi nennt, auch als er schon über fünfzig ist.

Karlheinz lebt in Ludwigshafen. Er nimmt sich während des Studiums möblierte Zimmer, aber die Universitäten sind nie sonderlich weit von zu Hause weg, die Wochenenden und freien Tage wie auch die Ferien verbringt er bei den Eltern, und bald unterbricht er sein Studium, um erst Jahre später einen neuen Versuch zu starten, der aber wieder scheitert. Karlheinz neigt zum Kränkeln, ohne dass es ein definiertes Krankheitsbild oder gar eine klare Diagnose gäbe, aber er ist überdurchschnittlich oft leidend. Seine Arztbesuche übersteigen in einigen Jahren die Zahl fünfzig. Er selbst vermutet ein Nervenleiden, hält gar Lärm für die Ursache. Von einem längeren Aufenthalt in einer geschlossenen Anstalt ist schließlich die Rede, da ist er schon in seinen Dreißigern.

Karlheinz, der Held des gleichnamigen Romans von Billy Hutter, hat wirklich gelebt. Er wurde 1929 in Ludwigshafen am Rhein geboren und starb unter nicht ganz geklärten Umständen Ende der 80er Jahre ebendort. Billy Hutter ist der Chronist von Karlheinzens Geschichte, wobei es ihm lieber ist, von einem Roman zu sprechen, weil er vieles doch nur erraten kann, häufig spekuliert. Hutter ist von Beruf Entrümpler, und Karlheinzens Nachlass hat ihn mehr beschäftigt, als gut für ihn war. Auch diese Geschichte findet sich im Buch, Hutters Besessenheit von einem Fremden, von diesem unscheinbaren Kerl, der Regenmäntel sammelte und seine Besuche bei Prostituierten genauso akribisch und frei von Emotionen im Kalender festhielt wie die Sonntagsausflüge mit den Eltern und dem, wie er gern sagt, Opelauto.

Am Beispiel von Karlheinz erzählt Hutter aber auch die Geschichte der jungen Groß- und Fabrikstadt Ludwigshafen, wie sie sich im und nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte und veränderte. Er berichtet von einem spießig-miefigen Nachkriegsdeutschland, aus dem die Spuren des Dritten Reichs lange nicht wegzukriegen sind. Er streut Anekdoten von anderen Entrümpelungen ein, die mit Karlheinzens Geschichte zusammenhängen oder die Stadt, die Zeit beschreiben. Und er stellt sich vor, wie es gewesen wäre, wenn ein fast gleichaltriger Junge aus Karlheinzens Nachbarschaft, aus dem später einmal ein Bundeskanzler werden sollte, sich mit Karlheinz angefreundet hätte.

Je näher man beim Lesen Karlheinz und seinen Eigenarten kommt, seinen Ordnungszetteln, seiner Unfähigkeit, Dinge wegzuwerfen, seiner sturen Rechthaberei, die ins Eklige gleitet, wenn er sich von der Welt ungerecht behandelt fühlt, desto anregender wird es für die eigene Fantasie, besonders dann, wenn der Autor auf die Bremse tritt und bedauert, keine weiteren Belege zu haben. Gerade diese Auslassungen, diese Lücken im Lebenslauf machen diesen seltsamen Typen so spannend und lassen erahnen, warum Hutter lange nicht von ihm lassen konnte.

Die Schulzeit des Chemikersohns zeigt schon, dass es möglicherweise kein gutes Ende mit ihm nehmen wird. Tatsächlich wird er nie den rettenden Absprung schaffen. Er bleibt der gescheiterte Sohn seines Vaters. Seine größte Leidenschaft sind die Planungen der Ausflüge und Wanderurlaube mit den Eltern, die Fahrten mit dem Opelauto. Es geht letztlich immer um den Vater. Die Liste seiner Ausgaben für Geburtstags- und Weihnachtsgeschenke zeugen davon, wie unwichtig ihm die Mutter war, und als Papa zu alt und gebrechlich wird, übernimmt Karlheinz nicht nur das Steuer des Opelautos, sondern auch die Herrschaft über die Finanzen. Keine gute Idee.

Mutti soll Papa überleben. Ein zäher, langer Erbrechtsstreit mit der verhassten Schwester folgt, und wenige Jahre nach Muttis Tod endet Karlheinz im Rhein. Er hat kein Geld, dafür einen Haufen unbezahlter Rechnungen. Auf die elterliche Wohnung hat er keinen Anspruch mehr, er muss raus. In der Wohnung selbst türmen sich neben Karlheinzens Notizzetteln und Büchlein auch noch Berge von Tageszeitungen. Nein, im Wegwerfen war er nicht gut, dieser Karlheinz, und das scheint er irgendwie auf den Entrümpler Billy Hutter übertragen zu haben, zumindest was seinen eigenen Nachlass angeht.

Hutter braucht fünfundzwanzig Jahre, um Karlheinz endlich zu entrümpeln. Der Autor hat in Ludwigshafen zusammen mit Freunden eine Art kleines Heimatmuseum, in dem es einen eigenen Raum für Karlheinz gab. Dass Karlheinz ihm nicht gut getan hat, weiß Hutter, wenn er daran denkt, dass er dessen Regenmantel trug und einmal sogar mit dem Gedanken spielte, in Karlheinzens alte Wohnung einzuziehen. Jetzt hat er den entrümpelten Nachlass endgültig entrümpelt und Karlheinz mit dem Roman ein wunderbar kurioses, vollkommen angemessenes Denkmal gesetzt.

Stand
Autor/in
Zoe Beck