"Die Chronik des verpassten Glücks" von Peter Henning ist ein spannender, beglückender Roman, eine Rarität. Denn die meisten guten Romane gehen schlecht aus. Dieser nicht. Er hat ein beschwingt offenes Ende. Und ist beides: hell, licht, aufwärtsstrebend und gleichzeitig wahr, tief und bezaubernd. Was will man mehr?
Peter Henning hat viele Jahre als Literaturkritiker erst über Andere geschrieben, bevor er 1995 selbst Schriftsteller wurde. Er war Leiter der Literaturredaktion bei der Schweizer "Weltwoche", arbeitete für "Die Zeit", den "Spiegel", die "Frankfurter Allgemeine", wo kürzlich und anlässlich seines 90. Geburtstags ein Portrait seines Freundes Peter Wellershoff erschien. Ihm ist auch der jüngste Roman Hennings "Die Chronik des verpassten Glücks" gewidmet.
2013 erschien Peter Hennings dokufiktionaler Bestseller "Ein deutscher Sommer" über das Geiseldrama von Gladbeck. Vor sechs Jahren kam sein letzter großer Roman heraus. "Die Ängstlichen" hieß er, wurde von der Kritik sehr gelobt und schon auf dem Einband als "Hauptwerk des Autors" bezeichnet. Haben wir es bei der "Chronik des verpassten Glücks" jetzt, dem neuen Roman des 56-jährigen gebürtigen Hanauers, mit einem Nebenwerk zu tun? Ganz im Gegenteil.
Eine "Chronik des verpassten Glücks" könnte wahrscheinlich jeder von uns schreiben. Darin: Chancen, die nicht ergriffen wurden, Gelegenheiten, die ungenutzt verstrichen, gute Momente, die man nicht fähig war auszukosten. Seit Freud wissen wir, dass die Gründe dafür meist in der Vergangenheit liegen. Und davon handelt Peter Hennings neuer Roman, sozusagen von "common ground". Er lädt den Leser ein, sich von der Geschichte umhüllen zu lassen, um sich in ihr wiederzufinden. Und das gelingt dem Autor mit einer Leichtigkeit, die, wie es häufig der Fall ist, die Mühelosigkeit beim Schreiben, wiederspiegelt.
Peter Henning: Mir kamen die Figuren sehr schnell sehr nahe. Und ich hatte wenig Schreibprobleme. Ich hab das in elf Monaten schreiben können. Auch wenn die Recherche dazu 40 oder 45 Jahre gedauert hat, nämlich in Form meines vorangegangenen Lebens.
"Die Chronik des verpassten Glücks" spielt zwischen Hanau und Krakau. In einem Hanauer Kinderheim verbringt die Hauptfigur Richard Warlo die ersten fünf Jahre seines Lebens, in einem Städtchen bei Krakau sucht er nach der Wahrheit über seinen Ziehvater Pawel Król. Richard Warlo, Insektenkundler im Kölner Zoo und trauernder Witwer, findet beim Aufräumen des Kellers eine Pralinen-Schachtel mit Fotos, die seinen Ziehvater Pawel Król in polnischer SS-Uniform zeigen. Die Entdeckung stürzt ihn in eine Krise, eine Identitätskrise. Denn Pawel war sein Retter, sein Beschützer, sein ein und alles. Er hatte ihn aus dem Kinderheim geholt. Er war ein Süchtiger, ein Spieler mit Neigung zu kriminellen Aktionen, aber auch ein Mann mit der Begabung zur Innigkeit, zur Nähe. Für Richard war er der sehr geliebte Vater. Nun, angesichts der Fotos, fühlt er sich betrogen. Er beschließt, die Wahrheit über Pawel herauszufinden. Im Grunde treibt ihn die Frage um: Wer bin ich denn noch, wenn ich nicht weiß, wer mein Vater war? Um eine Antwort zu erhalten, fährt Richard Warlo dorthin, wo Pawel Króls frühere Frau und die beiden gemeinsamen Kinder leben, ins polnische Städtchen Sosnowiec bei Krakau und trifft Verabredungen mit ihnen, die Fotos als Gesprächsgrundlage mit im Gepäck. Aber die von Pawel verlassene polnische Familie ist nicht begeistert über Richards Besuch. Denn auch jeder von ihnen hat die Leerstelle, die Pawel hinterließ, mit eigenen Wünschen und Verwünschungen gefüllt, an denen nicht gerührt werden soll. Über Marcin, den alkoholkranken und verwahrlosten Sohn Pawels aus erster Ehe, heißt es in der "Chronik des verpassten Glücks":
Peter Henning: Diese Figur des Pawel, die geistert schon durch meinen ersten kleinen Roman "Der Tod des Eisvogels". Dieser Pawel, der dann auch im Roman "Die Ängstlichen" wieder auftaucht, der in Kurzgeschichten von mir präsent ist, den ich immer wieder neu anlaufe, und hab jetzt auch wieder mit dem neuen Buch gemerkt, wieder hab ichs nicht geschafft, obgleich ich dieses Thema seit 40 Jahren mit mir rumtrage, nämlich die Frage, wer ist das eigentlich, der mich da als Kinderheimkind zu sich genommen hat und mich geprägt hat, all die Dinge, die ich heute nicht kann, die Unfähigkeiten, die hat er mir sozusagen mitgegeben, aber auch viel Poetisches und das Schmetterlingssammeln. Ich bin mit ihm quer durch Europa gefahren, um Schmetterlinge zu finden. Und hab dabei teilweise die schönsten Momente meines Lebens erlebt.
Der 56-jährige Literaturkritiker und Romancier Peter Henning schreibt also immer wieder über sein Leben - und nicht nur das, er scheint weitgehend nur ein Thema zu kennen. Auch wenn das bei zig anderen großen Autoren ebenfalls so ist, es zuzugeben scheint doch ein Wagnis. Denn autobiographisches Schreiben gilt als unfein, wird schnell mal abgewertet als Betroffenheitsliteratur und Tagebuchgeschreibsel. Hohe Literatur, so der hehre Anspruch, hat sich von solchen persönlichen Verwicklungen weitgehend zu befreien oder sie doch wenigstens bis zu Unkenntlichkeit zu veredeln. Peter Henning sieht das anders.
Peter Henning: Ich bin der größte Spezialist meines Lebens, so wie Sie der größte Spezialist Ihres Lebens sind. Ich habe nur meine Biographie. Und das ist der Steinbruch, aus dem ich einfach zehre. Ich glaube, es gibt Schriftsteller, die schreiben, weil sie etwas wissen, und es gibt Schriftsteller, die schreiben, um etwas zu erfahren. Und ich glaube, dass ich zu den Zweiten gehöre. Schreiben ist für mich Reparatur, Wiederherstellung. Und wenn es nur die Illusion ist, dass ich es in der Sprache kurz herstelle. Und dass ich die Zeit noch einmal zurückhole.
Peter Henning fragt in seinem Roman "Die Chronik des verpassten Glücks" also: Warum wollen wir wissen, woher wir stammen? Aber es bleibt nicht beim Aufarbeiten der Kindheit. Er geht weiter und hier gelingt ihm etwas Neues, nämlich ein Blick auf die Möglichkeiten, wie es wäre, ohne die Last der Vergangenheit zu leben. Hennings ohnehin reiche Kunst der metaphorischen Beschreibung gewinnt ab diesem Wendepunkt förmlich rauschhafte Qualitäten. Tapsig übt sich sein Held Richard darin, das Leben nicht mehr zurückzuweisen, sondern sich ihm versuchsweise einmal hinzugeben, das kleine Glück des gelungenen Moments zu kosten. Am Ende liest man das Buch wie einen erlösenden Appell:
Peter Henning: Warum in der Vergangenheit wühlen und dort sich mit Gespenstern rumschlagen, wenn die Gegenwart doch vor uns liegt und jetzt von uns gelebt werden will? Lebe jetzt und versuche nicht, die Dämonen aufzuscheuchen, die dann kommen und dich vielleicht doch nur fressen.
Gesagt werden muss der Vollständigkeit halber hier allerdings, dass der Roman eine Straffung gut vertragen hätte. Auch einen Korrekturleser dranzusetzen, wäre keine schlechte Idee gewesen. Immerhin erscheint das Buch bei Luchterhand, einem Imprint von Random House, des weltgrößten Publikumsverlags. Da müssten doch die Mittel für Lektoratsarbeiten vorhanden sein. Trotz dieser Ärgerlichkeiten bleibt es dabei: "Die Chronik des verpassten Glücks" ist ein spannender, beglückender Roman, eine Rarität. Denn die meisten guten Romane gehen schlecht aus. Dieser nicht. Er hat ein beschwingt offenes Ende. Und ist beides: hell, licht, aufwärtsstrebend und gleichzeitig wahr, tief und bezaubernd. Was will man mehr?