Buch der Woche

Bettina Stangneth – Sexkultur

Stand
Das Interview führte
Lukas Meyer-Blankenburg

Von Me-Too bis zu Eltern-Demos gegen schulische Aufklärung – Sex in der öffentlichen Wahrnehmung scheint vor allem eines zu sein: ein Problem. Zu diesem Schluss kommt die Philosophin und Historikerin Bettina Stangneth in ihrem neuen Buch „Sexkultur“.

Jahrhundertelang hätten wir uns daran gewöhnt, Sex von Kultur zu trennen, als etwas Natürliches und Triebhaftes zu kategorisieren. Dies mache es uns heute unmöglich, frei über Sex zu sprechen.

Bettina Stangneth, international bekannt und ausgezeichnet für ihre Adolf Eichmann - Biografie, streitet für eine neue sexuelle Aufklärung. Die beginnt mit der Frage: Was ist Sex überhaupt? Wer dieses Buch liest, muss feststellen: die Antwort darauf ist gar nicht so einfach.

Wir haben uns angewöhnt zu glauben, dass Sex etwas ist, was man Natur nennen kann und das wir in einen Gegensatz setzen zu dem, was wir ansonsten so treiben als Menschen – das ist aber schlicht falsch.

In aktuellen Diskussionen ist Sex negativ konnotiert

Für Bettina Stangneth ist Sex eine Kulturleistung. Eine, über die wir aber kaum in der Lage seien, wirklich zu sprechen. Da stünde uns Europäern die eigene, jahrhundertealte Tradition im Weg, die den Sex in den Bereich des Triebhaften und Tierischen verdrängt habe.

In den medialen und digitalen Diskussionen der Gegenwart sei der Sex außerdem vor allem mit negativen Begleiterscheinungen verknüpft – von MeToo, über Pornosucht bis sexualisierte Gewalt.

Wir sprechen über alles drum herum, wir sprechen darum, was daran schädlich ist, was daran gerade stört, was daran schiefgeht, was daran Verbrechen ist oder mit Verbrechen zu tun hat, aber über die Sache, das Eine, sprechen wir tatsächlich erstaunlich wenig und denken auch erstaunlich wenig darüber nach – nämlich was das bedeutet, eine sexuelle Erfahrung zu haben – zunächst mit sich allein, später dann mit anderen Menschen und was tatsächlich uns da begegnet.

Ziel von Betinna Stangneth ist eine neue sexuelle Aufklärung

Die Philosophin Bettina Stangneth streitet mit ihrem Buch für nichts weniger als eine neue sexuelle Aufklärung. An Immanuel Kant angelehnt, den Philosophen der Aufklärung, fordert die Autorin: Habe Mut, dich deiner Sinnlichkeit ohne Anleitung eines anderen zu bedienen.

Kein leichtes Unterfangen. Und auch das Buch „Sexkultur“ als solches ist keine leichte Lektüre. Bettina Stangneth, seit ihrem preisgekrönten Buch über Adolf Eichmann von 2011 eine international gerühmte Philosophin, verlangt den Leserinnen und Lesern einiges ab.

Die Menschen müssen nach Stangneth mehr über sexuelle Erfahrungen sprechen

Sie selbst habe schon seit den Achtziger Jahren darüber nachgedacht, ein solches Buch zu schreiben – freigeistig, assoziativ, nachdenklich um das Eine kreisend – auf das, wenn es wirklich nur Natur wäre, wir heute leicht verzichten könnten.

Also wir könnten es auch einfach lassen, also wir können es wirklich einfach lassen, weil wir in der Zwischenzeit Reproduktionstechniken haben, mit denen wir uns fortpflanzen können und die Gattung erhalten können ohne uns mit einem anderen Menschen darüber zu einigen, was Berührung bedeutet.

Aber wir wollen es ganz offensichtlich nicht sein lassen. Und gerade deshalb empfiehlt die Autorin dringend, mehr darüber zu sprechen, was sexuelle Erfahrungen für den Menschen bedeuten, was sie mit ihm machen.

„Sexkultur“ ist das richtige Buch zur richtigen Zeit

Nur wenn wir das machen, können wir eben auch bestimmen, was zum Beispiel Missbrauch, Vergewaltigung – all diese Dinge sind. Verbrechen natürlich in erster Linie. Weil wir erstmal sagen müssen, was es tatsächlich ist, also was das Positive daran ist, das wir erhalten wollen und das wir erfahren wollen und dann auch erst zu verstehen, warum das andere große Verbrechen sind. Man kann ja erst verstehen, warum etwas ein großes Verbrechen ist, wenn man weiß, was es zerstört.

Auch nach der Lektüre von „Sexkultur“ wird man nicht einfach wissen, was Sex genau ist. Die Autorin zieht es vor, unangenehme Fragen zu stellen und Denkanstöße zu liefern.

Und sie vermittelt eine Ahnung davon, wie faszinierend es doch eigentlich ist, dass der Mensch einen vernunftbegabten Körper mit einem lustfähigen Geist bewohnt. „Sexkultur“ ist das richtige Buch zur richtigen Zeit.

Hochkultur in ihrer ursprünglichsten Form

Abseits der ungnädigen Shitstorms und feindseliger Debatten macht es deutlich: Sex muss nicht schambehaftet sein, nicht nur problembeladen oder angsteinflößend. Sex kann auch eine Gabe des Menschen sein, der er mit Ehrfurcht begegnet. Hochkultur gewissermaßen in ihrer ursprünglichsten Form.

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Das Interview führte
Lukas Meyer-Blankenburg