Diskussion über vier Bücher

SWR Bestenliste Dezember mit Büchern von Tezer Özlü, Katja Lange-Müller, Lydia Davis und Maria Stepanova

Stand
Autor/in
Carsten Otte

Kitsch oder nicht? Cornelia Geißler, Gregor Dotzauer und Klaus Nüchtern diskutierten vier auf der SWR Bestenliste im Dezember verzeichneten Werke im barocken Schießhaus in Heilbronn.

Vor allem das erstplatzierte Prosawerk von Tezer Özlü gab Anlass für grundlegende Diskussionen. Die Anfang der 1980er Jahre geschriebene und jetzt wiederentdeckte „Suche auf den Spuren eines Selbstmordes“ führte zur Frage, ob der Text unter Kitsch zu subsumieren sei. Vor allem der aus Wien angereiste Literaturkritiker des Wiener Magazins Falter Klaus Nüchtern mokierte sich über Sachfehler und missglückte Formulierungen der „pathetischen und egozentrischen Prosa“.

Gregor Dotzauer, Literaturredakteur des Tagesspiegel, verteidigte den hohen Ton und die existentielle Dringlichkeit der Prosa. Cornelia Geißler, Literaturredakteurin der Berliner Zeitung, erinnert an den biografischen Hintergrund des Buchs, an die Gewalterfahrungen und Todessehnsucht der Autorin, denen beglückende Lektüren und nahezu therapeutische Sex-Szenen gegenübergestellt werden.

Die 1943 in Anatolien geborene Übersetzerin und Schriftstellerin Tezer Özlü gehörte in den 1980er Jahren zu den wichtigsten Vertreterinnen junger Literatur in der Türkei. Obwohl sie auch in Deutschland gelebt hat, ist sie hierzulande weitgehend unbekannt geblieben. Özlüs „Suche nach den Spuren eines Selbstmordes“ erscheint hierzulande zum ersten Mal, obwohl das Buch auf Deutsch verfasst und mit einem Literaturpreis ausgezeichnet wurde. Die Autorin reist nicht nur zu den Schauplätzen ihrer literarischen Heroen wie Kafka, Svevo und Pavese, sie erkundet in einer „apodiktischen Sprache“ (Nüchtern) auch eigene Sehnsüchte, Träume und Wünsche. Das Buch entwickelt sich damit zu einer literarischen Feier der „unbedingten Rebellion“ (Dotzauer).

Auf dem Programm in Heilbronn standen außerdem: mit „Unser Ole“ der neue Roman von Katja Lange-Müller (Platz 2), die Prosaminiaturen “Unsere Fremden“ von Lydia Davis (Platz 3) sowie der aus dem Russischen von Olga Radetzkaja übertragene Roman „Der Absprung“ von Maria Stepanova (Platz 4).

Aus den vier Büchern lasen Isabelle Demey und Dominik Eisele. Durch den Abend führte Carsten Otte.

Über diese Bücher wurde diskutiert

Platz 1 (77 Punkte) Tezer Özlü: Suche nach den Spuren eines Selbstmordes

Tezer Özlü, die 1986 starb, schrieb ihren Roman auf Deutsch, veröffentlichte ihn aber nur in eigener Übersetzung auf Türkisch. Nun ist erstmals die Originalversion zu lesen: Eine Prosa, die die Welt nicht beschreibt, sondern durchlebt.

Platz 2 (71 Punkte) Katja Lange-Müller: Unser Ole

Es beginnt mit einer ungewöhnlichen Dreier-WG: Zwei Seniorinnen und ein autistischer Jugendlicher. Dann ereignet sich ein Unfall, der mehr als das gewesen sein könnte, und der Blick wird frei auf ein düsteres Mutter-Tochter-Verhältnis.

Platz 3 (69 Punkte) Lydia Davis: Unsere Fremden

Davis ist ein Star der Short Story. Ihre Texte sind streng durchgearbeitet, formbewusst und radikal reduziert. 147 Stories komprimiert sie auf 300 Seiten. Ihr Blick für die Paradoxien des Alltags und auch für deren Komik ist frappierend.

Platz 4 (65 Punkte) Maria Stepanova: Der Absprung

Sommer 2023. Ein Krieg ist im Gange. Die Schriftstellerin M. ist im westeuropäischen Exil und wird zu einem Literaturfestival nach Dänemark eingeladen. Doch sie strandet – und nutzt die Gelegenheit, um zu verschwinden. Eine trickreiche, doppelbödige Prosa.

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Carsten Otte