Tezer Özlü, die Schwester des 2021 gestorbenen Rechtsanwalts und Schriftstellers Demir Özlü und der Übersetzerin Sezer Duru, starb im Februar 1986 im Alter von 42 Jahren in Zürich. Sie hatte als Übersetzerin gearbeitet und veröffentlichte 1982 ihren auf Deutsch geschriebenen Roman „Auf den Spuren eines Selbstmords“.
Die Publikationsgeschichte ist verwickelt: Für das deutsche Manuskript wurde sie mit dem Literaturpreis der Universitätsstadt Marburg ausgezeichnet; das Buch erschien dann aber nie in der deutschen Fassung. Zur Erstveröffentlichung kam es 1983 in der Türkei in einer von der Autorin selbst angefertigten Übersetzung.
Nun liegt der Roman erstmals in der Originalfassung vor, ergänzt durch ein Nachwort der Büchnerpreisträgerin Emine Sevgi Özdamar, die in etwa zur gleichen Zeit wie Özlü begann, in deutscher Sprache zu publizieren: „Gestern, an meinem ersten Aprilsonntag in Berlin, habe ich mich entschlossen, von nun an den Schmerz als Glück zu definieren. Habe ich in den glücklichsten Momenten meines Lebens nicht Schmerz empfunden? Den Schmerz des Seins. Und in der Ausdauer der Schmerzen war die Erwartung: das Warten auf meine eigene Welt.“
Zwei Reisen sind es, so schreibt Özdamar, die Özlü in ihrem Buch unternimmt: Die eine zu den drei Schriftstellern Svevo, Kafka und Pavese, die Özlü verehrt hat. Die andere ins Innere eines Menschen, dem Satz Paveses folgend, dass die Welt nicht beschrieben, sondern durchlebt werden müsse. Das Ich, das hier spricht, ist ein von den politischen Umständen gequältes, das die „vernunftlosen Ketten der Gesellschaft“ abzustreifen sucht. Ein intensiver Text.
Diskussion über vier Bücher SWR Bestenliste Dezember mit Büchern von Tezer Özlü, Katja Lange-Müller, Lydia Davis und Maria Stepanova
Kitsch oder nicht? Cornelia Geißler, Gregor Dotzauer und Klaus Nüchtern diskutierten vier auf der SWR Bestenliste im Dezember verzeichneten Werke im barocken Schießhaus in Heilbronn. Vor allem das erstplatzierte Prosawerk von Tezer Özlü gab Anlass für grundlegende Diskussionen. Die Anfang der 1980er Jahre geschriebene und jetzt wiederentdeckte „Suche auf den Spuren eines Selbstmordes“ führte zur Frage, ob der Text unter Kitsch zu subsumieren sei. Vor allem der aus Wien angereiste Literaturkritiker des Wiener Magazins Falter Klaus Nüchtern mokierte sich über Sachfehler und missglückte Formulierungen der „pathetischen und egozentrischen Prosa“. Gregor Dotzauer, Literaturredakteur des Tagesspiegel, verteidigte den hohen Ton und die existentielle Dringlichkeit der Prosa. Cornelia Geißler, Literaturredakteurin der Berliner Zeitung, erinnert an den biografischen Hintergrund des Buchs, an die Gewalterfahrungen und Todessehnsucht der Autorin, denen beglückende Lektüren und nahezu therapeutische Sex-Szenen gegenübergestellt werden.
Die 1943 in Anatolien geborene Übersetzerin und Schriftstellerin Tezer Özlü gehörte in den 1980er Jahren zu den wichtigsten Vertreterinnen junger Literatur in der Türkei. Obwohl sie auch in Deutschland gelebt hat, ist sie hierzulande weitgehend unbekannt geblieben. Özlüs „Suche nach den Spuren eines Selbstmordes“ erscheint hierzulande zum ersten Mal, obwohl das Buch auf Deutsch verfasst und mit einem Literaturpreis ausgezeichnet wurde. Die Autorin reist nicht nur zu den Schauplätzen ihrer literarischen Heroen wie Kafka, Svevo und Pavese, sie erkundet in einer „apodiktischen Sprache“ (Nüchtern) auch eigene Sehnsüchte, Träume und Wünsche. Das Buch entwickelt sich damit zu einer literarischen Feier der „unbedingten Rebellion“ (Dotzauer).
Auf dem Programm in Heilbronn standen außerdem: mit „Unser Ole“ der neue Roman von Katja Lange-Müller (Platz 2), die Prosaminiaturen “Unsere Fremden“ von Lydia Davis (Platz 3) sowie der aus dem Russischen von Olga Radetzkaja übertragene Roman „Der Ansprung“ von Maria Stepanova (Platz 4). Aus den vier Büchern lasen Isabelle Demey und Dominik Eisele. Durch den Abend führte Carsten Otte.
Literatur SWR Bestenliste Dezember
Die SWR Bestenliste empfiehlt seit über 40 Jahren verlässlich monatlich zehn lesenswerte Bücher, unabhängig von Bestsellerlisten. Nicht die Bücher, die am häufigsten verkauft werden, bestimmen die Liste, sondern eine Jury, bestehend aus 30 namhaften LiteraturkritikerInnen, wählt die Bücher aus, denen sie möglichst viele LeserInnen wünscht.