In ihrem Winterpoem 20/21 schrieb die Trägerin des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung von der Starre, die sie überfiel, als sie aufgrund der Corona-Pandemie gezwungen war, von England nach Russland zurückzukehren. Stepanova beginnt, Ovid zu lesen, ebenfalls ein Verbannter. Und so verwandelt sich der Text bei aller Bedrängnis unter Stepanovas Hand in etwas Neues, Poetisches. Zugleich kommt in der Kälte und im Eingeschlossensein auch ein Vorgefühl zum Vorschein; eine Ahnung dessen, womit wir es heute zu tun haben – einem Krieg in Europa.
„Der Absprung“ schließt zunächst an dieses Szenario an: „Im Sommer 2023 wuchs das Gras weiter, als wäre nichts geschehen: es wuchs, als ginge es gar nicht anders, wie um ein weiteres Mal zu zeigen, dass es an seiner Absicht festhielt, aus der Erde zu sprießen, ganz egal, wie viel auf deren Oberfläche gemordet wurde.“ So hebt das Buch an, um dann in eine Geschichte voller Absurditäten hineinzufinden: Die Dichterin M., im Exil in B. lebend, bricht auf zu einem Literaturfestival nach Dänemark. Eine Reise voller Pannen, was nicht verwundert, wenn man B. mit einer großen deutschen Stadt assoziiert: Die Züge kommen nicht pünktlich oder gar nicht; das Telefonladekabel geht verloren; schließlich steht die Dichterin auf einem Bahnhof, bestellt und nicht abgeholt.
Doch das beunruhigt M. nicht weiter, denn sie wittert in der Situation eine Chance, aus der Welt zu verschwinden. Eine trickreiche, doppelbödige Prosa, die vor dem Hintergrund des Krieges individuelle Wege der Befreiung eröffnet.
Buchkritik Maria Stepanova – Der Absprung
Maria Stepanova erzählt von einem langen Abschied - einem Abschied von ihrer Heimat Russland und auch, zumindest in Teilen, von sich selbst.
Rezension von Ulrich Rüdenauer
Literatur SWR Bestenliste Dezember
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