Die 1947 geborene Lydia Davis gilt in den USA bereits als Star der Short Story, wurde 2013 mit dem Booker Prize ausgezeichnet, und auch in Deutschland ist sie mittlerweile weit mehr als ein Geheimtipp.
Ihre Fähigkeit, komplexe emotionale und gesellschaftlich relevante Sachverhalte offenzulegen, ist staunenswert. Sie kann über die Liebe schreiben und über Tiere im Verhältnis zu ihren Besitzern, über Tiere im Verhältnis zueinander, über Träume und über den Tod.
Streng durchgearbeitet, formbewusst und radikal reduziert sind die 147 Short Stories, die auf gerade einmal 300 Seiten stehen – das allein zeigt die Komprimiertheit, in der Davis arbeitet.
Der Titel für die Geschichtensammlung, das hat Davis in einem Interview mit dem „New Yorker“ erzählt, speist sich aus einer realen Begebenheit: Am Rande einer Kleinstadt lebten drei Brüder zusammen in einem Haus. Die Männer galten als geistig zurückgeblieben und waren Sonderlinge, die von den anderen Stadtbewohnern angefeindet wurden. Eines Tages standen die Behörden vor der Tür, um das Haus zu räumen. Die Menschen aus der Kleinstadt versammelten sich vor dem Haus, um die Brüder zu schützen: Ja, es waren Fremde, aber eben: „Unsere Fremden“.
Solche Mechanismen von Distanzierung und plötzlicher, auch übergriffiger Nähe interessieren Davis. Sie hat einen Blick für die Paradoxien des Alltags und auch für deren Komik. Die letzte Geschichte des Bandes geht so: Wenn wir tot und fort sind, mag es tröstlich sein, das schnelle Klopfen an der Tür zu hören, wie die Stimme auf der anderen Seite sagt: ‚Housekeeping!‘, auch wenn wir nicht in der Lage sein werden, die Tür zu öffnen.“
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Buchkritik Lydia Davis - Es ist, wie’s ist. Stories
Lydia Davis ist eine Meisterin der kurzen Form. Ihre Short Stories können alles zum Thema haben und jede Gestalt annehmen. Nichts an ihnen ist konventionell. Nun lernen wir in „Es ist, wie’s ist“ das Frühwerk der Autorin kennen. Es steht ihren späteren Geschichten, die bereits auf Deutsch vorliegen, ins nichts nach. Rezension von Ulrich Rüdenauer. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Klaus Hoffer Droschl Verlag ISBN 978-3-990-59057-7 172 Seiten 22 Euro
Diskussion über vier Bücher SWR Bestenliste Dezember mit Büchern von Tezer Özlü, Katja Lange-Müller, Lydia Davis und Maria Stepanova
Kitsch oder nicht? Cornelia Geißler, Gregor Dotzauer und Klaus Nüchtern diskutierten vier auf der SWR Bestenliste im Dezember verzeichneten Werke im barocken Schießhaus in Heilbronn. Vor allem das erstplatzierte Prosawerk von Tezer Özlü gab Anlass für grundlegende Diskussionen. Die Anfang der 1980er Jahre geschriebene und jetzt wiederentdeckte „Suche auf den Spuren eines Selbstmordes“ führte zur Frage, ob der Text unter Kitsch zu subsumieren sei. Vor allem der aus Wien angereiste Literaturkritiker des Wiener Magazins Falter Klaus Nüchtern mokierte sich über Sachfehler und missglückte Formulierungen der „pathetischen und egozentrischen Prosa“. Gregor Dotzauer, Literaturredakteur des Tagesspiegel, verteidigte den hohen Ton und die existentielle Dringlichkeit der Prosa. Cornelia Geißler, Literaturredakteurin der Berliner Zeitung, erinnert an den biografischen Hintergrund des Buchs, an die Gewalterfahrungen und Todessehnsucht der Autorin, denen beglückende Lektüren und nahezu therapeutische Sex-Szenen gegenübergestellt werden.
Die 1943 in Anatolien geborene Übersetzerin und Schriftstellerin Tezer Özlü gehörte in den 1980er Jahren zu den wichtigsten Vertreterinnen junger Literatur in der Türkei. Obwohl sie auch in Deutschland gelebt hat, ist sie hierzulande weitgehend unbekannt geblieben. Özlüs „Suche nach den Spuren eines Selbstmordes“ erscheint hierzulande zum ersten Mal, obwohl das Buch auf Deutsch verfasst und mit einem Literaturpreis ausgezeichnet wurde. Die Autorin reist nicht nur zu den Schauplätzen ihrer literarischen Heroen wie Kafka, Svevo und Pavese, sie erkundet in einer „apodiktischen Sprache“ (Nüchtern) auch eigene Sehnsüchte, Träume und Wünsche. Das Buch entwickelt sich damit zu einer literarischen Feier der „unbedingten Rebellion“ (Dotzauer).
Auf dem Programm in Heilbronn standen außerdem: mit „Unser Ole“ der neue Roman von Katja Lange-Müller (Platz 2), die Prosaminiaturen “Unsere Fremden“ von Lydia Davis (Platz 3) sowie der aus dem Russischen von Olga Radetzkaja übertragene Roman „Der Ansprung“ von Maria Stepanova (Platz 4). Aus den vier Büchern lasen Isabelle Demey und Dominik Eisele. Durch den Abend führte Carsten Otte.
Literatur SWR Bestenliste Dezember
Die SWR Bestenliste empfiehlt seit über 40 Jahren verlässlich monatlich zehn lesenswerte Bücher, unabhängig von Bestsellerlisten. Nicht die Bücher, die am häufigsten verkauft werden, bestimmen die Liste, sondern eine Jury, bestehend aus 30 namhaften LiteraturkritikerInnen, wählt die Bücher aus, denen sie möglichst viele LeserInnen wünscht.