Daniel Kehlmann ist einer der wenigen Superstars in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur: Sehr jung debütierte er mit komplexen kleinen Romanen, landete dann mit „Ich und Kaminski“ einen ersten wirklich großen Erfolg, um mit „Die Vermessung der Welt“ schließlich zum internationalen Bestsellerautor zu werden. Verdientermaßen. Seitdem ist jeder neue Kehlmann ein Ereignis. Ob seine Bücher nun von historischen Figuren oder literarischen Legenden handelten, seine Texte lasen sich immer auch als Kommentar zu gegenwärtigen Debatten und Zeitläuften.
Im Mittelpunkt von „Lichtspiel“ steht der österreichische Regisseur Georg Wilhelm Pabst, der zu den bedeutendsten Filmemachern der Weimarer Republik zählte. Pabst galt als ein Hauptvertreter der sozial engagierten so genannten Neuen Sachlichkeit. Als die Nationalsozialisten in Deutschland an die Macht kommen, dreht Pabst gerade in Frankreich einen Film; noch 1933 geht Pabst nach Hollywood, wo ihm kein Erfolg beschert ist. Sein erster Film fällt beim Publikum durch; er schlägt sich mit schlechten Drehbüchern, mittelmäßigen Mitarbeitern und übergriffigen Produzenten herum. In der Heimat ist seine Mutter schwerkrank, also reist er zurück nach Österreich. Der Zweite Weltkrieg beginnt, die Nazis überfallen ein Land nach dem anderen und eine Rückkehr ins amerikanische Exil scheint nicht möglich.
Der Mann, der einst der „rote Pabst“ genannt wurde, hält sich für einen Lichtspielkünstler, dessen Aufgabe es vor allem ist, „Magie aufs Zelluloid zu bannen“. Also schlägt er den vermeintlich „pragmatischen“ Weg ein. Besser einen nächsten Auftrag als keinen, sagt er sich. Er dreht Filme, die künstlerisch umstritten und propagandistisch nützlich sind. Daniel Kehlmann hat mit „Lichtspiel“ ein Biopic geschrieben; ein Lehrstück über die Unfreiheit der Kunst in der Diktatur.
Buchkritik Daniel Kehlmann – Lichtspiel
Mit „Lichtspiel“ legt Daniel Kehlmann nicht nur ein Portrait des legendären Filmregisseurs Georg Wilhelm Pabst vor, sondern auch eine Parabel über die künstlerische Arbeit innerhalb eines totalitären Regimes. Einige starke, nämlich wild-groteske Szenen im Zentrum des nationalsozialistischen Machtapparates überzeugen, doch die biografische Fiktion enttäuscht insgesamt. Viele Pointen sind vorhersehbar, die größtenteils biedere Prosa entwickelt sich zur Nummernrevue. Selbst Pabst war unter widrigen Bedingungen experimentierfreudiger als der Schriftsteller Kehlmann.
Rezension von Carsten Otte.
Rowohlt Verlag, 480 Seiten, 26 Euro
ISBN 978-3-498-00387-6
Diskussion über vier Bücher SWR Bestenliste November mit Büchern von Terézia Mora, Daniel Kehlmann u.a.
Die SWR Bestenliste war zu Gast bei „Open Books“, dem großen Literaturfest der Frankfurter Buchmesse. Aus der Jury der Bestenliste saßen auf dem Podium der Evangelischen Akademie: Martina Läubli (Neue Züricher Zeitung), Kirsten Voigt (WDR) und Martin Ebel (Tages-Anzeiger). Carsten Otte moderierte den Abend. Aus den vier vorgestellten Büchern der SWR Bestenliste im November las Isabelle Demey.
Zum Auftakt ging es um den bislang unbekannten Roman „Krieg“ von Skandalautor Louis-Ferdinand Céline (Platz 8), den Hinrich Schmidt-Henkel für den Rowohlt Verlag ins Deutsche übertragen hat. Es entspann sich eine kontroverse Diskussion: Martina Läubli gibt zu, dass der sehr anschauliche und auch abstoßende Text über das Kriegselend sie „gepackt“ habe. Kirsten Voigt nennt „Krieg“ ein „Wutbuch“, das auf den Effekt geschrieben wurde und ein misanthropisches und misogynes Menschenbild offenbare. Martin Ebel erklärte, das seien „bürgerliche Reaktionen auf einen Autor, der mit dem Bürgertum nichts zu tun hatte“. Für ihn ist Céline einer der Wegbereiter der literarischen Moderne in Frankreich.
Auch Daniel Kehlmanns Roman „Lichtspiel“ aus dem Rowohlt Verlag (Platz 5) hinterließ unterschiedliche Leseeindrücke in der Jury. Die literarisierte Arbeits- und Lebensgeschichte des legendären Stummfilm-Regisseurs Georg Wilhelm Pabst hält Martin Ebel für einen „ganz großen Wurf“. Kirsten Voigt gibt zu, viele starke Szenen über einen Künstler in der NS-Diktatur gelesen zu haben, die sich leider nicht zu einem „großen Bogen“ schlössen. Läubli sieht eine raffinierte literarische Vorbereitung einer Verfilmung dieser Lebensgeschichte, die aber durch den zu gedrechselten Stil an Dringlichkeit verliere.
Durchweg gelobt wurden die autofiktionalen Erzählungen der zweifachen Booker-Preisträgerin Hilary Mantel (Platz 2). „Sprechen lernen“ heißt der Band aus dem Dumont-Verlag, den Werner Löcher-Lawrence ins Deutsche übertragen hat. Das Buch enthält sieben beunruhigende und „sprachlich makellose“ Geschichten, die von einer Kindheit und Jugend im Norden Englands, und zwar in den 1950er und 1960er Jahre erzählen.
Genauso positiv reagierte die Jury auf die Spitzenreiterin der SWR Bestenliste im November: „Muna oder Die Hälfte des Lebens“ heißt der aktuelle Roman der Büchner-Preisträgerin Terézia Mora, der im Luchterhand Verlag erschienen ist. Erzählt wird die Geschichte von Muna, die als Schülerin Ende der 1980er Jahre in einer DDR-Kleinstadt den Französischlehrer Magnus kennenlernt und sich in ihn verliebt. Doch der begehrte Mann, der vor seinen eigenen Dämonen flieht, entwickelt sich in der Beziehung zu einem rücksichtslosen Schläger. Die Jury lobte insbesondere die Form der Erzählung, die nicht zuletzt auf ästhetischer Ebene die Entwicklung einer Schriftstellerin zu ihrem ersten Buch zeige.
Literatur SWR Bestenliste Dezember
Die SWR Bestenliste empfiehlt seit über 40 Jahren verlässlich monatlich zehn lesenswerte Bücher, unabhängig von Bestsellerlisten. Nicht die Bücher, die am häufigsten verkauft werden, bestimmen die Liste, sondern eine Jury, bestehend aus 30 namhaften LiteraturkritikerInnen, wählt die Bücher aus, denen sie möglichst viele LeserInnen wünscht.