Die erste Generation von Menschen, die als sogenannte Gastarbeiter nach Deutschland gekommen sind, ist zuletzt verstärkt Thema der Gegenwartsliteratur gewesen. Doch stilistisch so facettenreich wie der 1979 in Nettetal geborene Schriftsteller und Verleger Dinçer Güçyeter sich der Geschichte seiner Eltern annimmt, dürfte man diesen Aspekt der bundesrepublikanischen Geschichte noch nicht zu lesen bekommen haben.
Güçyeter ist Lyriker, wurde 2022 mit dem wohl bedeutendsten Lyrikpreis des Landes, dem Peter-Huchel-Preis, bedacht und ist darüber hinaus der Verleger des Elif-Verlags. Dass Güçyeter seinen Verlag über lange Zeit hinweg finanzierte, indem er als Gabelstaplerfahrer arbeitete, gehört mittlerweile zum Standardrepertoire der Anekdoten des Literaturbetriebs.
„Unser Deutschlandmärchen“ ist ein Hybrid. Güçyeter hat Fotografien, Gedichte, Briefe und erzählerische Passagen zu einem Panorama der großen Versprechungen und des Ankommens verdichtet. 1965 kommen seine Eltern aus der Türkei an den Niederrhein. Wir sehen das erste Passbild von Fatma, seiner Mutter, aus dem Jahr 1966, daneben das Gedicht mit dem Titel „Gastarbeiterchor“, das anhebt mit den Zeilen „Ist das hier meine Heimat, meine Erde, mein Ort? / Soll ich hier die Lücke einer Leere füllen?“ Das Leben in der neuen, reichen Heimat besteht für Fatma aus zwei Jobs, einem in der Fabrik, einem als Putzfrau. Der Vater eröffnet eine Kneipe, in der er allzu großzügig anschreiben lässt.
„Unser Deutschlandmärchen“ ist keine zornige Abrechnung und kein Klagelied, wiewohl die Angst in Wellen wiederkommt, gerade angesichts der Brandanschläge in Solingen und Mölln. Natürlich geht es immer um das Große und Ganze – um Klassenfragen, um die Frage nach der Verfasstheit der Gesellschaft, um Aufstiegsträume, Geschlechterrollen.
Doch all das hat bei Güçyeter nichts unangenehm Didaktisches; vielmehr findet er immer wieder neue, adäquate Tonlagen, um dem Geschehen gerecht zu werden. Es ist der Roman eines Lyrikers, der in der Erzählung seiner Geschichte und der seiner Familie zu einer eigenen, unabhängigen Stimme findet.
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