Gäbe es einen Wettbewerb darum, welcher Autor oder welche Autorin binnen kurzer Zeit die meisten originellen Blurbs für ein Buch gesammelt hat – Jia Tolentinos Essayband hätte jetzt schon gewonnen. Die woke, digitale Elite ist begeistert, aber nicht nur die: Die 1988 in Toronto geborene, in Texas aufgewachsene und nach eigenen Angaben seit ihrem zehnten Lebensjahr internetsüchtige Journalistin greift in „Trick Mirror“ das Thema der Zeit auf. Der Untertitel des Buchs lautet „Über das inszenierte Ich“.
Eine von Tolentinos Thesen lautet, dass eine ganze Generation, die in den Nullerjahren sozialisiert wurde, die betrügerischen Machenschaften der Börsenunternehmen, Banken und Immobilienfonds als Verhaltensfolie übernommen hat. Trickserei und Täuschung sind damit zu einem Alltagsphänomen geworden. Die Selbstdarstellung im Netz gilt mehr als der nichtdigitale öffentliche Auftritt. Der eigene Wert bemisst sich an Followern, nicht an Freunden.
Tolentinos Essays unterscheiden sich deutlich von den kulturkritischen Diagnosen zumeist älterer Kollegen, die sich oft in Klagen erschöpfen. Die junge Autorin betreibt eine schonungslose Bestandsaufnahme, die zeigt, dass sie weiß, worüber sie schreibt.
Tolentino ist nicht nur belesen, sondern in und mit ihrem Stoff großgeworden. Sie kritisiert nicht, sondern beschreibt Phänomene aus dem Inneren ihres Entstehens heraus. Außerdem webt sie persönliche Erfahrungen und biografische Wendepunkte in ihre Texte ein. Dahinter blitzt eine Sehnsucht auf: Die nach einem schwindelfreien Leben.
Buchkritik Jia Tolentino - Trick Mirror
Was lesen internetgeschädigte Millennials in ihrer Lockdown-Freizeit? Man hat den Eindruck: Die Essays von Jia Tolentino. Ihr Buch „Trick Mirror. Über das inszenierte Ich“ gehörte zu den beliebtesten Instagram-Foto-Motiven: Man sah das Buch hübsch arrangiert auf Bettdecken und vor Spiegeln, begeisterte Instagrammer haben es in Szene gesetzt. Eigentlich absurd: Denn drinnen stecken Texte, die sich eben sehr kritisch mit einer Zurschaustellung des Ich, und dem Verschwimmen der Grenzen zwischen dem Ich im Netz und dem Ich in der Welt auseinandersetzen. Und mit der Selbsttäuschung, die damit verknüpft ist. Die Texte sind zwar sehr amerikanisch, aber Tolentino macht aus erstmal banal wirkenden Alltagsbeobachtungen zu Sportkleidung oder einer Salatbar kritische und fundiert recherchierte Gegenwartsanalysen, die nicht nur Millennials den Spiegel vorhalten.
Rezension von Kristine Harthauer.
Aus dem Englischen von Margarita Ruppel
S. Fischer Verlag, 368 Seiten, 22 Euro
ISBN: 978-3-10-397056-2
Literatur SWR Bestenliste Dezember
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