Birgit Birnbacher gewinnt den Ingeborg-Bachmann-Preis 2019. Er ist mit 25.000 Euro dotiert.
Der Text umkreist das soziale Verschwinden einer Frau, die sich kurzzeitig in einem Schrank verkriecht, als ein staatlicher „Beobachter“ vorbeikommt, um die Verhältnisse in dem Wohnblock zu dokumentieren.
Ein sprachlich und gesellschaftlich bedeutender Text in einem besonders starken Jahrgang, meint SWR2 Literaturredakteur Carsten Otte.
Deutschlandfunkpreis: Leander Fischer
KELAG-Preis: Julia Jost
3sat-Preis: Yannic Han Biao Federer
Publikumspreis: Ronya Othmann
Abschlusskommentar von SWR2 Literaturredakteur Carsten Otte
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Die Dramaturgie des Bachmannwettbewerbs passte genau
Wer auf den diesjährigen Bachmannwettbewerb zurückschaut, könnte meinen, es gäbe einen Literaturgott, einen gütigen und klugen Allmächtigen, der in der Lage ist, zum Beispiel die Reihenfolge in der Auslosung um die Startplätze und damit auch eine Dramaturgie für die Tage der deutschsprachigen Literatur festzulegen.
"Kayfabe" im Wrestling und in der Literatur
Es begann schon mit der Eröffnungsrede von Clemens J. Setz, der auf erstaunliche Parallelen zwischen der literarischen sowie politischen Bühne mit der Welt des Wrestlings hinwies. "Kayfabe" ist ein Schlüsselbegriff in diesem Showsport, der die gekonnte Vermischung von Fiktion und Realität beschreibt. Denn die Helden des Wrestlings sind im Grunde literarische Figuren, sie folgen einem festen Plan, einer Storyline, von der nicht abgewichen wird.
Auch beim Bachmannwettbewerb gibt es einen strikten Ablauf, penibel eingehaltene Statuten. Aber nicht nur formal, sondern auch inhaltlich schien es einen geheimen Plan zu geben.
Katharina Schultens erzählte von einer alptraumhaften Zukunft
Der erste Wettbewerbsbeitrag von Katharina Schultens jedenfalls nahm das Thema der Eröffungsrede auf und erzählte kunstvoll und mit dichter Bildsprache von einer alptraumhaften Zukunft, in der menschliche Fortpflanzung nur mit Pflanzen möglich erscheint.
Ein surrealer Muttertext, in dem auf seltsame Weise geboren und gebetet wird – als wollte die Autorin eben jenem Literaturgott huldigen.
"Theologischer Hokuspokus" interessiert Klaus Kastberger nicht
Das passte zur ohnehin heiligen Stimmung des Jury-Vorsitzenden Hubert Winkels, der mit seinen regelmäßigen Bezügen zum katholischen Glauben schon bald den Kollegen Klaus Kastberger zur Bemerkung provozierte, dieser theologische Hokuspokus interessiere ihn nun ganz und gar nicht.
Birnbachers Text beweist sprachliche und gesellschaftliche Relevanz
Dann war endlich Raum für ästhetische Debatten, für die Frage nach Relevanz, wie Jury-Mitglied Insa Wilke es formulierte. Sprachliche und gesellschaftliche Relevanz bewies dann auch der Beitrag von Birgit Birnbacher mit dem Titel „Der Schrank“.
Darin geht es um das kontrollierte und zugleich vernachlässigte Leben in einem großstädtischen Wohnblock. Die feinsinnige Erzählung zeige, so formulierte es Juror Stefan Gmünder in seiner Laudatio, wie die „Ökonomie über Klagenfurt hereinbreche“.
Tatsächlich umkreist der eigens fürs Wettlesen geschriebene Text das soziale Verschwinden einer Frau, die sich kurzzeitig in einem Schrank verkriecht, als ein staatlicher „Beobachter“ vorbeikommt, um die Verhältnisse in dem Wohnblock zu dokumentieren.
Schönste Landschaft und schlimmste politische Vergangenheit bei Julia Jost
Als relevant stufte die Jury auch den mit dem Kelag-Preis prämierten Text von Julia Jost ein, die es schaffte, das zentrale Thema der österreichischen Suada-Literatur, nämlich das Verhältnis schönster Landschaft und schlimmster politischer Vergangenheit auf humorige und virtuose Art auszuloten.
Ronya Othmann thematisiert den Völkermord an den Jesiden
Bei den Jury-Preisen ging der vieldiskutierte und in politischer Hinsicht ebenfalls relevante Beitrag von Ronya Othmann leer aus. Die Autorin berichtete über den grauenhaften Genozid an den Jesiden durch die Terroristen des IS, über das unermesslichen Leiden der eigenen jesidische Familie.
Der Publikumspreis ging an Ronya Othmann
Einige Jury-Mitglieder hielten das Stück, das zwischen Literatur und Journalismus changierte, allerdings für eine Art emotionale Erpressung, weil eine literaturkritische Bewertung angesichts des Respekts gegenüber der persönlich betroffenen Autorin nur schwer möglich sei.
Damit musste sich das Publikum nicht lange aufhalten, und so bekam Ronya Othmann dann auch den Publikumspreis.
Ein beeindruckend starker Jahrgang
Insgesamt war dieser "Bewerb", wie er im Österreichischen heißt, ein beeindruckend starker Jahrgang, weil die literarischen Zugänge zur Welt, die an drei Tagen vorgestellt wurden, äußerst vielfältig, weitgehend auch relevant waren und weil die Bezüge der Texte untereinander dann doch erstaunten.
War das schon Kayfabe? Falls es wirklich einen Literaturgott geben sollte, wird er mit sich und seiner Arbeit am Wörthersee im Reinen sein, denn gewonnen hat in Klagenfurt schließlich die Sprache selbst. Und die Einsicht, wie inspirierend und intensiv, weil energisch und dissonant die Debatte über Literatur sein kann.
Insofern hat die traditionsreiche Veranstaltung, die immer auch ums Überleben kämpft, ihre Relevanz durchaus eindrucksvoll bewiesen.
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Die Nominierten für den Bachmannpreis lasen in dieser Reihenfolge, die ausgelost wurde:
Donnerstag, 27. Juni:
10.00 Uhr Katharina Schultens
11.00 Uhr Sarah Wipauer stand auf der Shortlist
12.00 Uhr Silvia Tschui
13.30 Uhr Julia Jost stand auf der Shortlist und gewann den KELAG-Preis
14.30 Uhr Andrea Gerster
Freitag, 28. Juni
10.00 Uhr Yannic Han Biao Federer stand auf der Shortlist und gewann den 3sat-Preis
11.00 Uhr Ronya Othmann stand auf der Shortlist und gewann den Publikumspreis
12.00 Uhr Birgit Birnbacher stand auf der Shortlist und gewann den Ingeborg-Bachmann-Preis
13.30 Uhr Daniel Heitzler stand auf der Shortlist
14.30 Uhr Tom Kummer
Samstag, 29. Juli
10.00 Uhr Ines Birkhan
11.00 Uhr Leander Fischer stand auf der Shortlist
12.30 Uhr Lukas Meschik
13.30 Uhr Martin Beyer
Weitere Infos zu den teilnehmenden Autorinnen und Autoren
Der Bachmannpreis wird seit 1977 jährlich zu Ehren der Schriftstellerin Ingeborg Bachmann (1926–1973) verliehen und ist mit 25.000 Euro dotiert. 2018 ging der Preis an die ukrainische Schriftstellerin Tanja Maljartschuk und ihren Text „Frösche im Meer“.
Eröffnungsrede von Clemens J. Setz
Eröffnet wurden die 43. Tage der deutschsprachigen Literatur am 26. Juni mit der Auslosung der Lesereihenfolge. Anschließend hielt der Grazer Autor Clemens J. Setz die Eröffnungsrede unter dem Titel „Kayfabe und Literatur“.
Im letzten Jahr sorgte Feridun Zaimoglu mit seiner Eröffnungsrede für Aufsehen. Er nutzte die Gelegenheit für einen politischen Appell gegen Rechtspopulismus und Radikalismus in der Politik.