In seinem biografischen Essay erzählt Adam Soboczynski erfrischend und unterhaltsam die Migrationsgeschichte seiner Familie, die von Polen nach Deutschland ausgewandert ist. Vor allem aber ist sein Buch eine vehemente Verteidigung des westlichen Liberalismus.
Für die polnische Familie mit deutschen Wurzeln, die im September 1981 in Toruń an der Weichsel in ein Taxi steigt, wird ein Traum war. Sie kehrt dem grauen, sozialistisch regierten Polen den Rücken, um in das gelobte Land weiter westlich auszureisen, in die Bundesrepublik. In Polen wird nur wenige Wochen später das Kriegsrecht ausgerufen, die Grenzen werden dichtgemacht. Aber da ist das Leben der Übersiedler schon ein ganz anderes: „Die Wunderwerke des neuen Landes: Es funktionierten die Müllabfuhr, das warme Wasser, die Elektrizität“, schreibt Adam Soboczynski und setzt die begeisterte Aufzählung fort: „Die neuen, nie zuvor gekosteten Speisen: die Pommes, die Tiefkühlpizzen, der Toast Hawaii, die große Trommel Chio Chips Paprika, das Fürst-Pückler-Eis. Die Leuchtreklamen, das Lichtermeer, wenn man auf der Autobahn abends in die Stadt fuhr, wirkten gewaltig. Alles wirkte gewaltig.“
Adam Soboczynski war sechs Jahre alt als seine Eltern mit den beiden Kindern gen Westen aufbrachen. In seinem beschwingten Buch erzählt er von der Ankunft und vom Heimischwerden in der Bundesrepublik, aber immer wieder auch von Fahrten in die alte Heimat. Es ist eine Geschichte vom sozialen Aufstieg. Die Familie wird in Koblenz ansässig. Der Vater, von Beruf Maschinenbautechniker, geht auf Montage, die Mutter, eine gelernte Schneiderin, arbeitet als Putzfrau. Schnell gibt es ein Auto. Irgendwann reicht das Ersparte für eine Eigentumswohnung. Als Außenseiter oder Benachteiligte sehen sich die Zuwanderer auch rückblickend nicht: „Mein Vater ist einfach nicht dazu zu bewegen, die Schwierigkeiten in seiner zweiten Heimat zu dramatischen Episoden umzudeuten“, hält der Autor fest und schreibt in einem für das Buch typischen vergnüglich-nachdenklichen Ton weiter: „Nicht, dass er nicht ahnen würde, dass von Migranten heute regelrecht verlangt wird, sich als unterdrückt zu begreifen, schon deshalb, weil man ihnen dann mit überheblichem Mitleid begegnen kann. Als Migrant ist er eine Produktenttäuschung. Aber er ist nun mal zufrieden.“
Davon, die neue Heimat unkritisch zu betrachten oder gar zu verklären, ist Adam Soboczynski weit entfernt. Auch für das Schwierige und Problematische hat er ein gutes Auge und ein feines Sensorium. Ihm wird bald klar, dass er aus einem „Land des Stolzes“ in ein „Land der Befangenheit“ gekommen ist, in ein Land mit einer düsteren, schambesetzten Vergangenheit. Die wiederkehrenden Sommerurlaube in Polen, die zugleich Reisen ins „dörfliche 19. Jahrhundert“ mit bettelnden Kindern und verfallenen Häusern sind, lassen eine weitere Differenz augenfällig werden: „Ich war nicht nur in einem reichen und soliden, sondern auch in einem ziemlich versachlichten Land angekommen, in einem Land, in dem die Menschen sich jedenfalls nicht ständig drücken und küssen, sich nicht ständig bekreuzigen und mit Weh- und Lustlauten den Himmel beschwören.“
Es ist die intime Kenntnis der östlichen und der westlichen Welt, und es ist die wechselnde Perspektive, die diesen biografischen Essay so erhellend macht. Dabei ist das so unterhaltsame wie kluge Buch letztlich vor allem eine vehemente Lobrede auf ein „Traumland“, womit Adam Soboczynski den westlichen Liberalismus meint. Es geht dem Autor um eine Freizügigkeit und eine Gelassenheit, wie er sie als Schüler in Koblenz, als Student in Bonn und schließlich als Journalist in Berlin erlebt hat. Es geht um einen Gesellschaftsentwurf, der längst nicht mehr nur von seinen Gegnern infrage gestellt wird. In Teilen des akademischen Milieus sei es zum guten Ton geworden, den Liberalismus selbst anzugreifen. „Probleme, Rückfälle und Defizite des Westens galten jetzt manchen nicht als empörende Abweichungen von seinem Ideal“, so der irritierte Beobachter, „das Ideal selbst galt als problematisch.“ Für Soboczynski sind die Attacken, die sich „einseitig auf die Schattenseiten der Aufklärung“ konzentrieren, „schwer verständliches friendly fire“.
„Traumland“ verknüpft leichthändig und elegant Biografisches und Politisches. Die Eltern von Adam Soboczynski mochten es nicht, wenn man sich nicht anstrengt. Sie wussten, dass nichts selbstverständlich ist. Das, so lernt der Autor, gilt auch für das freiheitliche Leben „in der besten aller möglichen Welten“. Das „Traumschloss“, so schließt er, muss verteidigt werden.
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