Ein Fest der Nächstenliebe und der glücklichen Familie? So sah Weihnachten zu Lebzeiten von Charles Dickens nicht unbedingt aus. Seine Novelle „A Christmas Carol“, die Dickens vor 180 Jahren veröffentlichte, sollte das ändern. Doch Weihnachtsgefühligkeit hatte Dickens mit der Bekehrung des Ebenezer Scrooge gar nicht im Sinn, ihm ging es um die Kritik an einer ausbeuterischen Oberschicht.
Geldnot treibt Charles Dickens zu einer Weihnachtserzählung
Das Jahr 1843 ist nicht unbedingt das erfolgreichste für Charles Dickens. Die Verkaufszahlen für seinen neuesten Fortsetzungsroman „Martin Chuzzlewit“ bleiben deutlich hinter denen seiner vergangenen Erfolge zurück, darunter „Oliver Twist“ (1837/38) und „Nicholas Nickleby“ (1838/1839). Dickens' Verleger drohen ihm sogar mit der Kürzung seiner monatlichen Zahlungen.
Angesichts der bevorstehenden Geldsorgen und der Tatsache, dass seine Frau Catherine nun das fünfte Kind erwartet, beschließt der findige Schriftsteller, eine Geschichte für die Weihnachtstage zu schreiben. Dickens hofft, dass die festliche Thematik für schnelle Verkäufe sorgt und ihm wenigstens einen kurzfristigen Geldsegen beschert.
In der englischen Oberschicht hatte sich in den letzten Jahren eine regelrechte Weihnachtsmode breitgemacht. Die junge Königin Victoria hatte 1840 den deutschen Prinzen Albert geheiratet und dieser hatte einige Weihnachtsbräuche aus seiner Heimat mit nach Großbritannien gebracht, allen voran den geschmückten Weihnachtsbaum.
180 Jahre „A Christmas Carol“ – Ein Gespräch mit Literaturwissenschaftler Joachim Frenk
Dickens' Abrechnung mit dem Kapitalismus
Doch von lustvollen Weihnachtsfeiern im Hochadel könnte Dickens‘ Geschichte nicht weiter entfernt sein. Die Handlung beginnt im kalten und kargen Kontor des Geldverleihers Ebenezer Scrooge, der so geizig ist, dass er seinem Angestellten Bob Cratchit nicht einmal die Kohlen zum Heizen der Schreibstube gönnt.
England befand sich Mitte des 19. Jahrhunderts im Umbruch. Die Industrielle Revolution treibt die Menschen in die Städte und an die Maschinen. Doch die neuen Arbeitsbedingungen sind für die Menschen in den Fabriken alles andere als rosig: lange Arbeitszeiten und niedrige Löhne, die gerade zum Überleben reichen. Nicht zuletzt Kinder, die unter anderem in Bergwerken arbeiten, leiden unter den Bedingungen.
Das hatte Dickens als 12-Jähriger am eigenen Leib erfahren müssen. Sein Vater saß wegen hoher Schulden im Gefängnis und der kleine Charles musste den Unterhalt für die Familie verdienen, als Hilfsarbeiter in einer Lagerhalle. Die Erfahrungen dieser Zeit – die Trennung von Eltern und Geschwistern und die harte Kinderarbeit – werden später zu zentralen Inhalten seiner bedeutendsten Romane.
Aus heutiger Sicht erscheint es völlig überspannt, wenn Ebenezer Scrooge die Bitte eines Mannes, der Spenden für die Armen sammelt, barsch mit den Worten ausschlägt, man möge die Armen doch in Gefängnisse und Armenhäuser schicken. Doch in der strengen Hierarchie des frühen industriellen London ist genau das die Norm.
Geistergeschichten sind in England en vogue
Es sind schließlich vier Geister, die den geizigen Scrooge in den frühen Morgenstunden des Weihnachtstages bekehren: Zunächst sucht ihn sein ehemaliger Geschäftspartner Marley heim. Im Tod schwer mit Ketten und Geldkassetten behängt, kündigt er die Ankunft von drei Geistern an, die Scrooge die Weihnachten der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft vor Augen führen werden.
Dickens macht sich die Lust seiner Zeitgenossen für alles Übernatürliche zu Eigen. Autorinnen und Autoren wie Mary Shelley, Washington Irving und E.T.A. Hoffmann stehen hoch im Kurs, auch Seancen und Geisterbeschwörungen faszinieren Dickens’ Zeitgenossen.
Die Geister zeigen Scrooge seine einsame Kindheit, das herzliche und doch bescheidene Fest seines Angestellten Cratchit und eine düstere Vorahnung dessen, was von Scrooge bleiben wird, sollte er sein Leben so fortführen wie bisher. Vor allem das Schicksal von Cratchits krankem Sohn Tiny Tim bewegt das Herz des alten Mannes. Am Weihnachtsmorgen beschließt Scrooge, sein Leben von nun an in den Dienst der Nächstenliebe zu stellen.
Die erste Auflage verkauft sich in nur fünf Tagen
Dickens rechnet zwar mit einem guten Absatz für seine Novelle – übrigens ist es das erste Buch, das Dickens nicht in Fortsetzung publiziert – doch den überwältigenden Erfolg kann er nicht vorausahnen. In den fünf Tagen zwischen der Veröffentlichung am 19. Dezember und Heiligabend ist die erste Auflage von 6.000 Büchern restlos ausverkauft, eine zweite und dritte Auflage erscheinen noch im selben Jahr.
„A Christmas Carol“ wird schnell populär, nur wenige Wochen nach der Veröffentlichung findet Scrooge seinen Weg auf die Theaterbühne. Heute existieren unzählige Adaptionen als Theaterstück, Musical, Hörspiel, Oper, Ballett und nicht zuletzt als Film. Unter den vielfach verfilmten Werken von Dickens ist „A Christmas Carol“ das mit weitem Abstand populärste.
Dickens prägt das Bild von Weihnachten bis heute
Vor allem Dickens‘ lebhafte Darstellung der glücklichen Weihnachtsfeiern – ob die Geschäftsfeier bei Scrooges Lehrmeister Fezziwig, die Spiele bei Scrooges Neffen Fred oder das karge Familienfest der Familie Cratchit – trifft den Nerv seiner Zeitgenossen.
Dickens‘ Erzählung wird zur Blaupause dafür, wie man richtig Weihnachten feiert: die Räume mit Stechpalmenzweigen ausdekoriert und natürlich ein riesiger Truthahn, den ein Straßenjunge im Auftrag des Geldverleihers zur Familie seines Angestellten schicken lässt. Und nicht zuletzt die eigentliche Botschaft der Erzählung, die Aufforderung zu Nächstenliebe und Barmherzigkeit, wird dank Dickens zum zentralen Inhalt der Weihnachtsfeierlichkeiten.
Heute ist „A Christmas Carol“ nach der biblischen Weihnachtsgeschichte die weltweit wohl am meisten verbreitete Weihnachtsgeschichte. Alle Jahre wieder findet sie den Weg auf unsere Bildschirme – und natürlich auf unsere Leselisten.
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Charles Dickens: Der Weihnachts-Abend. Aus dem Englischen von Julius Seybt
The history of the Charles Dickens' "A Christmas Carol"
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