Ob Vermeer, Klimt oder Monet: Digitale Animationen berühmter Künstler und ihrer Werke sind beliebt. Ist das nur kommerzieller Kitsch – oder eröffnen sie tatsächlich einen neuen Zugang zur Kunst?
Es ist der Kern jeder immersiven Ausstellung: das Eintauchen in die Welt der Kunst. In einer großen Halle zu stehen, während sich über Wände und Boden Szenen aus dem Leben berühmter Künstlerinnen und Künstler ergießen, kann ein beeindruckendes, flirrendes Erlebnis sein.
Die aktuelle Ausstellung „Vermeer – Meister der Lichts“ in der Stuttgarter Schleyer-Halle lässt stolze Handelsschiffe durch den Raum gleiten, auf einer gigantischen historischen Weltkarte von Frederik de Witt erscheinen die Seewege, auf denen kostbare Kolonialwaren nach Europa gebracht wurden.
Es ist das 17. Jahrhundert, das „Goldene Zeitalter der Niederlande“ – die Zeit Jan Vermeers, der in Delft lebt und arbeitet. Sein Atelier wird lebendig, eine Dienstmagd putzt gerade noch die Staffelei, bevor sie dann Teil einer Szene, wird, die zu Vermeers Gemälde „Christus bei Maria und Martha“ gerinnt. Barockmusik füllt die Halle, während die Frauen auf des Meisters Bildern an der Laute zupfen oder am Klavier Platz nehmen.
Geschichtsunterricht mit Indiana Jones
Kein Zweifel: die Inszenierung steht im Vordergrund der immersiven Ausstellungen. Gerade bei historischen Themen kommt da jede technische Spielerei gerade recht: Bei der Schau „Tutanchamun“ über den wahrscheinlich berühmtesten Pharao des Alten Ägypten lässt sich mittels VR-Brille die legendäre Grabkammer erkunden, die 1922 von dem Archäologen Howard Carter entdeckt wurde.
26.11.1922: Archäologen betreten Tutanchamuns Grab
Man kann die Inhalte schwerer Truhen durchsuchen, in Carters Notizbuch blättern, sogar seine Lieblingsmusik auf dem Grammophon hören und mit Hilfe der virtuellen Petroleumlampe die Skorpione verscheuchen. Der Grabkammer folgt ein riskanter Flug über Berge und Feuerseen zum Herrscher des Totenreichs. Das ist Geschichtsunterricht mit Indiana Jones.
Doch während die digitale Erkundung der Grabungsstätte noch weitgehend den tatsächlichen Erkenntnissen folgt, ist die anschließende Reise zum Gott der Unterwelt pure Fantasie.
„Wir wollen eine Geschichte erzählen“
Weniger abenteuerlich, fast schon meditativ, fällt die Begegnung mit Vermeers Alltagsheldinnen aus. Die rätselhafte Beziehung des Künstlers zu seinen Frauen spiegelt eine tänzerische Inszenierung, die, in große Luftblasen projiziert, durch den Raum schwebt.
Immersive Ausstellungen verstehen sich nicht als Konkurrenz zum klassischen Kunstmuseum. Der Macher der Monet- und Vermeer-Ausstellung, Produzent Nick Hellenbroich, betont: „Wir wollen eine Geschichte erzählen“.
KI macht es möglich: Vermeers „Mädchen mit dem Perlenohrring“ spricht
Mit einer Weltpremiere wartet die immersive Show in Stuttgart in diesem Jahr auf. Jan Vermeers berühmtes Gemälde „Das Mädchen mit Perlenohrring“ wird dank künstlicher Intelligenz zu einem ganz besonderen Hingucker.
Im nachgestellten Atelierraum des Malers können sich die Besucherinnen und Besucher mit der jungen Frau unterhalten, ihr Fragen über Herkunft und Alter oder nach ihrem Meister stellen. Das funktioniert sogar auf Englisch. Wenn es denn funktioniert – denn auch eine KI hat gelegentlich Verständigungsprobleme, was das Mädchen auf dem Bild mit rollenden Augen quittiert.
Disneyland-Feeling mit Monets Seerosenteich
Um Kunst erlebbar zu machen, ermöglicht die digitale Technik tatsächlich erhellende Zugänge. In der Ausstellung „Monets Garten – Ein immersives Ausstellungserlebnis“, die 2022 in Stuttgart zu sehen war, wurde beispielsweise die Arbeitsweise des Impressionisten animiert und rekonstruiert.
Disneyland-Feeling kommt dagegen an Monets nachgestelltem, berühmten Seerosenteich auf: es duftet nach Lavendel und von der japanischen Brücke baumeln Lianen aus Plastik.
Keine Erfindung der Gegenwart
Solch spektakuläre Inszenierungen sind jedoch keine Erfindung der Gegenwart. Der irische Maler Robert Barker, Urvater populärer Kunstunterhaltung, ließ sich die Panorama-Darstellung patentieren. 1792 präsentierte er seine Edinburgh-Gemälde als spektakuläre Rundumsicht, bei der man die Bilder von der Mitte aus betrachten konnte.
1920 erhielt das Pariser Museé de l`Orangerie zwei neue ovale Ausstellungssäle, nur um die gigantischen Seerosen-Gemälde Monets zeigen zu können: Bilder von einer Breite bis zu 17 Metern, in die das Publikum schon damals ganz analog eintauchen sollte.
Die immersiven Ausstellungen ziehen Besuchermassen an und damit auch solche Menschen, die nur ausnahmsweise einen Fuß in ein Kunstmuseum setzen. Und weil die Anbieter sich auf berühmte Namen und populäre Kunstwerke konzentrieren, können sie damit rechnen, auf entsprechendes Interesse zu treffen.
Doch was bleibt am Ende von dem großen virtuellen Spektakel hängen? Diese Frage lässt sich nur differenziert beantworten.
Aha-Momente im Digitalen und Analogen
Wer einmal in Monets animierten Atelier verfolgen konnte, wie der Künstler mit seinen Farben gearbeitet, sie nicht gemischt, sondern in mehreren Schichten aufgetragen hat, wird diesen Effekt sicher nicht so schnell vergessen.
Und es ist faszinierend, in der 360-Grad-Ausstellung zu sehen, wie Jan Vermeer wissenschaftliche Errungenschaften seiner Zeit – Karten, Globus, Zirkel – in seine Bilder integriert, wie Details aufleuchten, die man vorher nie wahrgenommen hat.
Die Stuttgarter Staatsgalerie verfährt da in ihrer aktuellen Carpaccio-Ausstellung nicht viel anders. Der große Ursula-Zyklus des Künstlers wird mit von hinten beleuchteten Reproduktionen dargestellt, um einen Eindruck von der Farbigkeit zu vermitteln, die die Gemälde des italienischen Renaissance-Malers ausstrahlen.
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Um 1500 zählt Vittore Carpaccio zu den meistbeschäftigten Malern in Venedig. Kräftiges Fleischrot und Detailverliebtheit waren die Markenzeichen des Künstlers der Frührenaissance.
Wissenschaft bestätigt: Originale faszinieren mehr
Allerdings verfügen die traditionellen Kunstsammlungen über einen unschätzbaren Vorteil: Sie können in der Regel mit den Original-Kunstwerken glänzen.
Die Vermeer-Ausstellung 2023 in Amsterdam schlug alle Rekorde. Damit möglichst viele Interessierte einen Blick auf „Das Mädchen mit dem Perlenohrring“ werfen konnten, wurden die Öffnungszeiten deutlich verlängert.
Und nun hat ausgerechnet das Vermeer Mädchen gezeigt, welche Faszination tatsächlich von den echten Meisterwerken ausgeht. Denn laut einer niederländischen Studie von 2023 stimuliert echte Kunst das Gehirn mehr als ein Nachdruck.
So fanden Wissenschaftler mit Hilfe von Eye-Tracking-Technologie und MRT-Scans heraus, dass beim Betrachten echter Kunstwerke zehnmal stärkere Reaktionen hervorgerufen werden als beim Betrachten der Reproduktion. Freiwillige im Alter zwischen 21 und 65 Jahren zeigten bei dem „Mädchen mit dem Perlenohrring“ eine regelrecht „anhaltende Aufmerksamkeitsschleife“, so die Forscher.
Selbstreflexion statt Bilderrausch?
Und darum geht es im Kern: Um die Aufmerksamkeit der Menschen in einer digital fast schon überhitzten Zeit zu gewinnen, müssen immer neue Stimulationen geschaffen werden.
Für die immersiven Ausstellungskonzepte bedeutet das, immer neue faszinierende technische Spielereien zum Einsatz zu bringen. Dabei geht der Fokus im unentwegten Bilderstrom eines Gemäldes, das zerlegt, wieder zusammengesetzt und lebendig wird, gern mal verloren.
Eine rauschhafte Projektion, die im Moment fasziniert – aber dann eben auch vorbeirauscht. Anders das Original. Die echten Kunstwerke setzen nach den Erkenntnissen der Wissenschaft vor allem in den Gehirnbereichen positive Reaktionen in Gang, die für Bewusstsein und Selbstreflexion zuständig sind – ein Nachdenken also über sich und die Welt. Und das können weder KI noch „virtual Reality“.
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