Grundlage dieses Hörspiels ist ein Interview, das Marco Blaauw mit seinem Vater (geb. 1928) geführt hat. In diesem Interview ging es um die großen Fragen: um Leben und Tod. Die Antworten des Vaters kristallisierten sich als Zeitporträt einer Generation heraus, deren Erfahrungen und Prägungen ein langes 20. Jahrhundert in seinen geschichtlichen Ereignissen und Verwerfungen überspannen. Geboren in den Jahren der Weltwirtschaftskrise von 1929/30, erlebte Blaauws Vater Armut, Krieg, den starken Einfluss der Religion, den wirtschaftlichen Wiederaufbau, Neujustierungen und abrupte Änderungen der Ethik, Kapitalismus und Überfluss der Nachkriegszeit, die Globalisierung, den Siegeszug neuer Technologien und schließlich die sogenannten sozialen Medien. Direkt nach seiner Geburt war der Vater zu seinen Großeltern gekommen und wurde von diesen aufgezogen. Als dies nicht weiter möglich war, brachten sie ihn in ein Kloster in den Niederlanden. Im Alter von siebzehn Jahren erlernte er in einer Familienschreinerei in jenem Dorf, in dem später sein Sohn Marco Blaauw das Licht der Welt erblicken würde, das Zimmermannshandwerk und wurde schließlich Leichenbestatter.
In den O-Tönen spricht Blaauws Vater über den Tod als engen Freund. Seine Beziehung zu ihm ist natürlich und warm. Die Geschichten in »Engel der Erinnerung« werden chronologisch erzählt, von seinen frühesten Erinnerungen um 1933 bis heute.
Die Sprache in diesem Hörspiel ist ein niederländischer Dialekt, der seine Wurzeln im Plattdeutschen hat. Marco Blaauw will mit »Engel der Erinnerung« Klänge und Wortschätze, die allmählich verblassen, konservieren. Improvisationen, Sound-Processing und Soundscapes stellen dabei das musikalische Gerüst dar.
Regie und Komposition: Marco Blaauw
Produktion: SWR, ZKM Institut für Musik und Akustik 2016
Ursendung: 07.07.2016 in SWR2
Der Autor über sein Werk
Ein Hörspiel, bestehend aus langen Gesprächen mit meinem Vater in Niederländischem Platt, übersetzt und kommentiert auf Deutsch von einer Frauenstimme (Lisa Charlotte Friederich), begleitet von Trompeten, Muschel- und anderen Tierhörnern, Flügelgeräuschen, einer Uhr sowie elektronischer und konkreter Musik.
Im Frühling des Jahres 2012 erzählte mein Vater, damals 83 Jahre alt, wie er merkte, dass er älter würde. Den Antrieb, täglich Neues zu unternehmen, spürte er immer weniger. Stattdessen liebte er die Momente, in denen er lange stillsitzen konnte, um die Gedanken frei schweben zu lassen. In diesen Momenten kamen ihm viele Erinnerungen, Träume und Gefühle aus der Vergangenheit, die er intensiv genießen und neu erleben konnte. Sein Leben lang hatte er einen intensiven Umgang mit dem Tod. Als Kind schon, als er in Armut lebte und um ihn herum Menschen durch Krankheit und Schwäche starben. Später, als Jugendlicher, als er in einem Nonnenkloster lebte, in dem auch ein Hospiz untergebracht war, und er Menschen beim Sterben begleitete. Als junger Erwachsener baute er als Schreinerlehrling Särge, in die er die toten Körper betten musste, die er später auch begrub. Lange Zeit später war er der Küster im Dorf und wurde damit auch der ehrenamtliche Bestatter.
Seine Erfahrungen mit dem Tod, vor allem auch die Wärme und Leidenschaft, mit denen er über den Tod sprach, haben mich immer fasziniert und inspirierten mich zu einer Reihe von Interviews. Ich wollte wissen, wie es ihm damit ging, nur im Hier und Jetzt, ohne Zukunft, zu leben? Wie sich seine Beziehung zum Tod im Winter seines Lebens änderte? Ob er Angst vor dem Tod hatte oder bekam?
Ich zeichnete viele und lange Antworten auf Tonband auf: Bruchstücke von Erinnerungen; Träume und Gefühle. Seine Erzählungen handelten von existentiellen Themen: Tod, Armut, Einsamkeit, Liebe und Geborgenheit, Sinn des Lebens. Beim Abspielen der Aufnahmen faszinierten mich die Sprache und Klänge der Stimme. Ich hörte, wie fast jede Geschichte lustig anfing, dann aber, beim letzten Ausatmen, sein Gefühl und seinen Zustand wiedergab – nicht in Worte gefasst, sondern eher in Klänge und Geräusche.
Für dieses Hörspiel wählte ich 15 Fragmente aus, in fast chronologischer Reihenfolge, von denen ich denke, dass sie viele Menschen ansprechen. Einfache Geschichten, gleichzeitig wichtige Erinnerungen aus einer Generation, die Weltkriege, Wirtschaftskrisen und Wiederaufbau erlebt hat; sie bieten damit Anhaltspunkte für die Einordnung des täglichen Lebens heute.
Darüber hinaus dokumentiert dieses Hörspiel auch eine Sprache, die langsam verschwindet. Mein Vater spricht einen Dialekt, der seine Wurzeln in Plattdüütsch oder Nedderdüütsch hat. In den Niederlanden wird er auch „Achterhoeks“ genannt. In Washington, Library of Congress ist diese Sprache unter ISO 639-2 language code nds (nedersaksisch) registriert.
Der Autor
Marco Blaauw, geboren 1965 in Lichtenvoorde/Niederlande, studierte Trompete am Konservatorium in Amsterdam und setzte seine Studien später u. a. bei Pierre Thibaud und Markus Stockhausen fort. Die Weiterentwicklung der Trompete, ihrer Technik und ihres Repertoires ist Ziel und Anliegen von Marco Blaauw. Sein Engagement in der Ensemblemusik ergänzt er durch solistische Projekte im Bereich der komponierten und improvisierten Musik und die intensive Zusam- menarbeit mit bekannten und jungen Komponisten unserer Zeit.
Etliche Werke wurden eigens für ihn geschrieben, darunter Kompositionen von Richard Ayres, Peter Eötvös, Georg Friedrich Haas, Isabel Mundry, Wolfgang Rihm und Rebecca Saunders. Von 1993 bis 2007 arbeitete er intensiv mit Karlheinz Stockhausen zusammen – Blaauw war an zahlreichen Uraufführungen innerhalb des Opernzyklus LICHT und des Zyklus KLANG beteiligt. Als festes Mitglied ist er dem in Köln ansässigen Ensemble Musikfabrik seit 1994 verbunden. Engagements als Solist führten ihn um die Welt.
„Von Anfang an hatte ich das Bild vor Augen von einem Troubadour, der mit den Mitteln seiner Kunst Neuigkeiten verbreitet. Genau das will ich auch – mit meiner Trompete.“