Was gehört auf eine Bühne? Muss es besonders schön klingen? Die litauische Musiktheaterregisseurin Lina Lapelyte geht diesen Fragen mit ihrer Performance „Study of Slope“ nach, bei der sie Menschen singen lässt, die nicht singen können – es aber gerne tun. In den leerstehenden Räumen des alten Kaufhof Gebäudes in Stuttgart regen so anrührende Missklänge zum Nachdenken an.
Fast morbide Kulisse im ehemaligen Konsumtempel
Ja, wo ist man denn hier gelandet? Die Szenerie ist bizarr – zwischen hohen Brennnessel-Pflanzen, die aus Schubladen zu wachsen scheinen, sitzt das Publikum auf dem ausgedienten Mobiliar des besonderen Veranstaltungsortes.
Wir sind im alten Kaufhof Gebäude in der Innenstadt, das seit Monaten leer steht. Wo jetzt eine Bühne ist, kaufte Stuttgart früher Socken, Strumpfhosen oder Unterwäsche. Von dem ehemaligen Konsumtempel sind nur noch alte Kleiderständer oder Schubladen übriggeblieben. Eine fast morbide Kulisse.
Sängerinnen und Sänger zeigen ehrlich ihre Stimme
Der Chor turnt über alte Möbel, erobert die stillgelegte Rolltreppe, verschwindet in die Anprobe Kabinen und dem Kassenbereich. Dabei scheinen sie ganz bei sich, beachten das Publikum gar nicht, auch wenn sich einer von den zwölf direkt neben jemanden auf die improvisierten Bänke setzen.
Ihr Blick ist starr, sie sind präsent und wirken dennoch entrückt. Nach anfänglicher Irritation gewöhne ich mich an das bewusst Krumme, das da auf der Bühne stattfindet. Die Teilnehmenden schauspielern nicht, sie zeigen ehrlich ihre Stimme, wirken verletzlich und authentisch. Das ist irgendwie anrührend.
Was ist schön, lebenswert und gut?
Bei dem Text greift die Musiktheaterregisseurin Lina Lapelytė einen Roman von Sean Ashton auf. Was machen wir mit unserem Leben, was eben gerade nicht, was ist schön, lebenswert und gut? Sind wir zur falschen Zeit am falschen Ort?
Während der Dreiviertelstunde wird aus ersten schrägen Tönen ein Gesamtkunstwerk, das die traurig verlassenen Hallen zum Klingen bringt. Immer mehr zeigen sich die Harmonien in der Dissonanz. Die Misstöne gehören dazu und führen dazu, dass man über den Inhalt der Worte nochmal ganz anders stolpert und nachdenkt. Im gefälligen Wohlklang wäre wohl vieles untergegangen.
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