Tausende Kinder genießen den Sommer in Ferienfreizeiten. Wie gut sind sie vor Missbrauch geschützt? SWR Aktuell hat mit der Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, Kerstin Claus, gesprochen.
SWR Aktuell: Jugendreisen und Zeltlager sind im Sommer sehr beliebt. Jetzt ist ein Fall bekannt geworden, bei dem es um Alkohol- und Drogenmissbrauch gegangen ist. In einem anderen Fall wurde sexueller Missbrauch aktenkundig. Sind diese Freizeiten Graubereiche mit gefährlichen Freiräumen für Täter oder auch Täterinnen?
Kerstin Claus: In der Tat gibt es sehr unterschiedliche Qualitätsansprüche der einzelnen Anbieter. Das hat auch etwas mit Trägerschaften zu tun: Je mehr es bei den Kinder- und Jugendreisen in den privat-kommerziellen Bereich geht, desto geringer sind tatsächlich die Standards. Hier gibt es eindeutig Schutzlücken.
SWR Aktuell: Es hängt also offenbar davon ab, wer der Anbieter ist. Was sind die Unterschiede zwischen kommerziellen Anbietern und denjenigen - zum Beispiel in kirchlicher Trägerschaft - die nach dem Sozialgesetzbuch als freie Träger der Jugendhilfe gelten?
Claus: Wir haben auf der einen Seite die freien Träger der Kinder und Jugendhilfe. Diese werden - und das ist im Sozialgesetzbuch geregelt - über Vereinbarungen mit den öffentlichen Trägern zu Maßnahmen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen verpflichtet. Beispielsweise müssen sie sicherstellen, dass keine Personen mit einschlägigen Vorstrafen in der Kinder- und Jugendhilfe tätig sind und sich entsprechend ein Führungszeugnis vorlegen lassen. Sie sind angehalten, Schutzkonzepte gegen Gewalt zu entwickeln und umzusetzen.
Dazu gehört, Regeln und Auflagen zu definieren: Wie sollen die Teamerinnen und Teamer, die die Freizeiten begleiten, geschult sein? Gibt es Notfallpläne und Beschwerdemöglichkeiten für Kinder und Jugendliche? Wissen die Mitarbeitenden, dass sie Vorfälle melden müssen? Es gibt hier klare Qualitätsmerkmale. Man muss allerdings auch sagen: Manches steht zwar auf dem Papier, aber Papier ist auch geduldig. Die Kultur, das dann auch wirklich zu leben, das ist dann noch mal eine ganz andere Herausforderung. Hier braucht es klare Leitungsverantwortung und ein Team, das hinter den Maßnahmen steht.
Und dann gibt es auf der anderen Seite private, kommerzielle Anbieter. Und auch da lässt sich die Landschaft nicht so ganz eindeutig beschreiben, weil es Kinder- und Jugendreiseverbände gibt, die bereits Qualitätsstandards entwickelt haben.
Aber da es an gesetzlichen Vorgaben fehlt, gibt es hier große Unterschiede in der Qualität. Ich finde, überall dort, wo Kinder und Jugendliche Angebote im Freizeitsektor nutzen, braucht es klare Qualitätsstandards, die gegebenenfalls auch gesetzlich geregelt sein müssen.
Eltern sollten sich gut informieren Zeltlager und Jugendreise: Wie gut werden Kinder geschützt?
Jugendfreizeiten und Zeltlager sind ein beliebter Ferienspaß. Wie gut sind die Kinder auf diesen Reisen vor Übergriffen und Missbrauch geschützt? Worauf sollten Eltern bei der Auswahl achten?
SWR Aktuell: Warum hat der Gesetzgeber das bisher vernachlässigt? Eine Expertin sagte dazu, jede Pommesbude werde kontrolliert. Auf Freizeiten werden Kinder in die Obhut fremder Menschen gegeben. Wie kann das sein, dass man das ohne Schutzkonzept anbieten darf?
Claus: Richtig ist, dass der Staat in der Kinder- und Jugendhilfe schnellen Zugriff hat. Das betrifft alle Träger, die vom SGB 8 (Sozialgesetzbuch Acht, Anm. d. Red.) abgedeckt sind. Hier gibt es diese Schutzregelungen. Die Schutzlücke ist tatsächlich bei den kommerziellen Anbietern.
Es geht hier um ganz normale Gewerbebetriebe. Man muss schon fragen, welche Auflagen kann ich denen geben? Und da wäre die Perspektive meines Amtes immer: Welche Schutzmaßnahmen braucht es, damit Kinder und Jugendliche insbesondere auch vor sexueller Gewalt in solchen Settings geschützt werden?
SWR Aktuell: Was sind Ihre konkreten Vorschläge?
Claus: Man könnte es möglicherweise über eine Ergänzung der Gewerbeordnung lösen. Dort könnte man private, kommerzielle Anbieter zu Maßnahmen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen verpflichten. Dazu würden dann zum Beispiel die Vorlage eines Schutzkonzeptes oder weitere Auflagen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen gehören.
Im Übrigen können Schutzkonzepte - wenn sie tatsächlich umgesetzt und gelebt werden – auch ohne gesetzliche Verpflichtung heute schon eine Art Gütesiegel von Freizeitangeboten sein, an denen sich Eltern bei der Wahl des Anbieters orientieren könnten. Denn am Ende ist ja das das Problem: Wie können Eltern herausfinden, ob ein Anbieter die Qualitätsstandards erfüllt, die ich als Mutter oder Vater gerne erfüllt hätte? Eltern hätten dann eine gewisse Sicherheit. Die Standards müssen von Eltern identifizierbar sein.
SWR Aktuell: Was könnten das für Auflagen sein?
Claus: Es braucht mindestens eine Auflage, dass Begleitende von solchen Freizeitangeboten ein erweitertes Führungszeugnis vorlegen, dass qualifizierende Schulungen stattgefunden haben, deren Qualität geprüft werden sollte.
Und dass es auch Interventionspläne gibt. Was tue ich, wenn eine Beschwerde kommt? Wie interveniere ich, bei einer Vermutung oder einem Verdacht? Wie informiere ich die Eltern? Wie überprüfe ich Meldungen und Ähnliches? Es braucht also einen Notfallplan und das Hinzuziehen von externen Fachleuten. Es ist wichtig, dass die erwachsenen Begleitenden wissen, was sie tun können und wo sie Hilfe und Unterstützung finden.
SWR Aktuell: Sie nennen sehr konkrete Ideen. Das hört sich alles im Prinzip nicht nach einem Hexenwerk an. Warum steht es bislang dann nicht in der Gewerbeordnung drin? Wer schaut da weg oder wer schaut nicht hin?
Claus: Ich würde sagen, das ist vielfältig. Wir sind gesellschaftlich tatsächlich nach wie vor nicht so weit, dass wir eine grundsätzliche Haltung haben, dass und wie wir Kinder und Jugendliche angemessen schützen. Dazu müssten wir erst einmal alle verstehen, dass Kinder tatsächlich jeden Tag dem Risiko der sexuellen Gewalt ausgesetzt sind. Das ist in der analogen Welt so, vor allem im sozialen Umfeld und in der Familie. Aber natürlich auch in der Schülerhilfe, der privaten Ballettschule oder auch bei kommerziellen Reiseangeboten. Und erst recht ist das im digitalen Bereich so, wo Kinder komplett ohne soziale Kontrolle unterwegs sind. Das Risiko wird nicht ausreichend verstanden - politisch genauso wenig wie gesellschaftlich oder auf Seiten der Eltern.
Und wir brauchen eine Debatte, was es an Qualitätsmerkmalen braucht. Und die müssen dann auch tatsächlich abgefragt und eingefordert werden. Auch die Stimme der Eltern taucht hier im gesellschaftlichen Diskurs viel zu wenig auf. Das frustriert mich oft. Denn Eltern sind wichtige Multiplikatoren, um Schutzkonzepte an allen Orten, an denen sich ihre Kinder aufhalten, nachzufragen und auch zu überprüfen.
Das zeigt: Wir haben gesellschaftlich diese Risiken nicht verstanden. Deswegen haben wir auch die Kampagne "Schieb deine Verantwortung nicht weg!" ins Leben gerufen. Jede und jeder kann etwas tun. Dazu muss man kein Kinderschutzexperte sein, aber wissen, wo es Hilfe und Unterstützung gibt. Hierfür wollen wir das Bewusstsein weiter schärfen und zum Handeln ermutigen.
Sexuelle Gewalt findet überall statt, wo sich Kinder und Jugendliche aufhalten. Wir alle als Erwachsene brauchen Handlungskompetenz, um das zu verhindern. Und eine Form von Handlungskompetenz ist tatsächlich nachzuhaken gegenüber Anbietern: Habt ihr ein Schutzkonzept? Wie sieht das aus, wie haltet ihr das nach? Habt ihr Interventionspläne? Wie informiert ihr Eltern, wenn es zu übergriffigem Verhalten kommt, wenn es zur Alkoholkonsum kommt?
Das sind Dinge, die müssen sich Eltern klarmachen, dass sie Teil dieser Qualitätskontrolle sind. Und am Ende ist es tatsächlich so, dass auch Eltern die Anforderungen an die Politik formulieren müssen: Wir wollen, das es jetzt hier klare Standards gibt!
SWR Aktuell: Stoßen Sie auf offene Ohren mit ihrem Anliegen im politischen Betrieb?
Claus: Ja, zunehmend. Das merkt man zum Beispiel daran, dass bei der geplanten gesetzlichen Verankerung des Amtes einer oder eines Unabhängigen Beauftragten die Frage der Schutzkonzepte auf ambulante Maßnahmen ausgeweitet wird. Das sind zum Beispiel Angebote wie Gruppenstunden bei den Pfadfindern. Dafür soll die Verpflichtung zu Schutzkonzepten jetzt mit definiert werden. Das heißt, es ist wieder ein Stück mehr, wo diese Schutzmaßnahmen greifen - aber die kommerziellen und privaten Angebote sind davon noch nicht umfasst.
SWR Aktuell: Was würden Sie sich am Ende des Prozesses wünschen?
Claus: Mir ist wichtig, dass wir uns alle Strukturen, Ebenen und Anbieter anschauen. Und mein Ziel ist, dass Kommunen - zum Beispiel auch die Stadt Mainz - sich für Schutzstandards entscheiden: Sie müssen eine sichere Kommune werden wollen, auch mit Blick auf die Angebote im Kinder- und Jugendfreizeitbereich. Alle Anbieter sollten einen Standard bei Schutzvorkehrungen nachweisen - egal ob ein Anbieter kommunal verankert ist, ob es über den Sport läuft oder ob es private oder kommerzielle Angebote sind.
Wenn ich das als Kommune verankere, dann kann ich sozusagen in eine andere "Kontroll-Welt" gehen. Und dann kann ich auch Eltern beibringen: Hey, das sind Gütesiegel, das sind Qualitätsstandards. Da seid auch ihr als Eltern gefragt, danach zu fragen und das einzufordern. Es braucht Kommunen vor Ort, die sich dieses Themas annehmen und darüber diskutieren, welche Qualität Angebote für Kinder und Jugendliche haben müssen.
SWR Aktuell: Das ganze System müsste auch die Fälle mitdenken, in denen etwas falsch läuft - wie könnte das funktionieren?
Claus: Wir brauchen gute, funktionierende Beschwerdestellen, an die sich Eltern wenden können, gegebenenfalls auch anonymisiert, wenn Kindern von Freizeiten zurückkommen und über Dinge berichten, die nicht in Ordnung waren.
Und wir brauchen niedrigschwellige Beschwerdestellen für Kinder und Jugendliche selbst: Meldungen müssen ernst genommen werden und Eltern entsprechend informiert werden. Das schafft Transparenz, Aufklärung und ermöglicht zeitnahe Hilfe und Unterstützung, wenn wirklich etwas Gravierendes vorgefallen sein sollte.
Oft ist es nicht der sogenannte Einzelfall, sondern meist sind es Strukturen, fehlende Regeln, die Missbrauch und seine Vertuschung erst ermöglichen. Deshalb braucht es überall gute Beschwerdestellen und Interventionsmaßnahmen, damit Übergriffe und sexuelle Gewalt sichtbar gemacht werden können. Daran fehlt es bislang häufig.