Mehr Menschen im Land sollen erst mit 67 in Rente gehen. Der Bundeskanzler möchte, dass die Zahl der Frührentner sinkt. Das ist unrealistisch, meint Rentenexperte Moritz Ehl vom Sozialverband VdK Rheinland-Pfalz im SWR-Interview:
SWR Aktuell: Weil zunehmend Fachkräfte fehlen, will Olaf Scholz (SPD), dass mehr Menschen bis 67 arbeiten - sich also an das offizielle Renteneintrittsalter heranarbeiten. Durch den Wunsch des Kanzlers wird das aber nicht einfach so geschehen. Welche Voraussetzungen müssen aus Sicht des VdK Rheinland-Pfalz erfüllt werden, damit überhaupt mehr Leute bereit sind, länger zu arbeiten?
Moritz Ehl: Grundsätzlich finden wir es gut, dass jetzt überhaupt mal über Arbeitsbedingungen gesprochen wird. Denn in den letzten Jahren ging es in der Rentendiskussion eigentlich immer nur um die Frage, um wie viel kann man das Renteneintrittsalter noch erhöhen. Wir können an der Altersschraube aber nur so und so weit drehen. Die Menschen können einfach nicht länger als bis zu einem gewissen Alter arbeiten.
Und es gibt von unserer Seite seit einiger Zeit Forderungen dazu, insbesondere, dass für ältere Arbeitnehmer:innen vereinfachte Arbeitsbedingungen gemacht werden, dass es gerade in Berufen, in denen man körperlich schwer arbeitet, einen Ausgleich geben muss. Denn diese Menschen können nicht bis 67 weiter arbeiten. Grundsätzlich ist es ein großer Unterschied, welche Art von Beruf jemand ausübt, ob denn überhaupt eine Möglichkeit besteht, bis 67 zu arbeiten oder nicht.
SWR Aktuell: Der Dachdecker etwa kann bis 67 vermutlich kaum auf Hausdächer steigen. Laut Scholz soll es deshalb mehr berufliche Weiterbildung geben. Ist es realistisch, dass der Dachdecker mit Ende 50 mal eben umgeschult wird, damit er bis 67 als Fachkraft zur Verfügung steht?
Ehl: Es ist nicht realistisch. Man sieht es ja heute schon, dass auch viele gut qualifizierte Menschen mit Anfang 60 keine Stellung mehr finden, die nicht gerade erst umgeschult wurden, sondern einen Beruf schon seit Jahrzehnten ausgeübt haben. Sie finden als Anfang 60-Jährige keine Stellung mehr. Dann wird ein umgeschulter Dachdecker das erst recht nicht schaffen. Hier muss es Ausgleichsmöglichkeiten geben, um dann doch eben früher in Rente zu gehen. Das ist sinnvoll, das ist in manchen Berufen notwendig, und diese Menschen müssen dann auch eine Rente haben, die zum Leben reicht.
SWR Aktuell: Heißt das, in dieser Diskussion um das Arbeiten bis 67 geht es im Grunde nur um gut- oder hochqualifizierte Arbeitnehmer und die weniger Qualifizierten fallen sowieso durchs Raster?
Ehl: Davon bin ich eigentlich überzeugt. Denn wir scheren im Moment alle über einen Kamm. Wir behandeln die Krankenschwester oder den Dachdecker gleich wie jemand, der nur mit dem Kopf arbeitet. Und es sind einfach unterschiedliche gesundheitliche Gegebenheiten. Und nicht jeder wird es körperlich schaffen, bis 67 zu arbeiten. Das heißt, wir brauchen für diese Menschen beispielsweise einen guten Zugang in eine Erwerbsminderungsrente, wenn sie aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr weiter arbeiten können.
Wir brauchen viel flexiblere Arbeitsmöglichkeiten. Wir brauchen auch noch weiterhin Berufschancen für jemanden, der mit Anfang 60 noch einen Job sucht. Und umgekehrt ist es bei den Gutqualifizierten ja häufig so, dass sie in den letzten Jahrzehnten über Arbeitszeitmodelle, über Altersteilzeit quasi gedrängt wurden, früher zu gehen. Und hier kann man durchaus ansetzen und versuchen, die Leute zu überzeugen, länger im Beruf zu bleiben. Aber nicht alle!
SWR Aktuell: Gehen Sie beim VdK Rheinland-Pfalz davon aus, dass die Menschen, die vorzeitig in Rente gehen, auch nicht mehr arbeiten wollen, oder würden mehr Leute bis 67 arbeiten, wenn die Arbeitsbedingungen verbessert werden?
Ehl: Wir wünschen uns da mehr Flexibilität. Die gibt es teilweise schon im Recht. Sie wird aber kaum genutzt. Also die Möglichkeit, beispielsweise nur noch eine Halbtagsstelle auszuüben und schon mal eine halbe Rente zu beziehen. Da muss es viel fließendere Übergänge geben. Die sind im Recht schon so angelegt, die sind aber kaum bekannt und die Menschen nutzen das nicht. Und ja, es ist ein Unterschied, ob jemand nicht mehr will. Das sind häufig die Besserverdienenden, die es sich dann auch leisten können, die Abschläge auszugleichen. Die können eine Einmalzahlung an die Rentenversicherung tätigen. Dann haben sie eine abschlagsfreie Altersrente. Oder ob jemand nicht mehr kann und sich dann möglicherweise über Sozialleistungen über Arbeitslosengeld, über Erwerbsminderungsrente irgendwie ins Rentenalter retten muss.
SWR Aktuell: Die FDP fordert ein flexibleres Renteneintrittsalter und Arbeitszeitmodelle, mit denen sich jeder seinen persönlichen Übergang in die Rente passgenauer gestalten kann als heute. Ist das also der richtige Weg?
Ehl: Ich sehe ehrlich gesagt bei dem Vorschlag der FDP keinen so großen Unterschied zum aktuellen Recht. Auch bislang ist es ja so: Wenn ich vor der Grenze in Rente gehe, habe ich Abschläge. Wenn ich meinen Rentenbeginn hinausschiebe, habe ich Zuschläge. Das ist heute schon so. Man würde es nur nicht mehr Grenze nennen. Aber man bräuchte trotzdem einen Zeitpunkt, ab dem sich die Abschläge reduzieren und in Zuschläge umwandeln. Wo wir ran müssen, ist der Arbeitsmarkt, wo wir ran müssen, sind die Arbeitsbedingungen. Denn das Recht gibt das alles schon her aktuell. Es wird aber kaum genutzt, weil es in den Firmen so nicht gelebt wird. Weil auch oft keine Akzeptanz da ist, dass jemand sagt, ich möchte jetzt meine Arbeitszeit reduzieren, ich will ein anderes Modell fahren, weil es zu wenig Erfahrungswerte in den Firmen gibt. Da müssen die Änderungen her, und das funktioniert nicht allein durch rechtliche Änderungen.
SWR Aktuell: Zusammengefasst: die Betriebe müssten ihren Mitarbeitenden auf Wunsch flexiblere Arbeitsmöglichkeiten gewähren, aber viele Menschen sind gar nicht informiert, welche Optionen rechtlich möglich sind?
Ehl: Ja, die Menschen wissen nicht, dass sie diese Möglichkeit haben. Und sie haben auch gar keine Modelle im Alltag, wo sie das schon mal sehen, weil es eben so wenig genutzt wird. Beispielsweise zum 1. Januar werden bei vorgezogenen Altersgrenzen die Hinzuverdienstregelungen gestrichen. Das heißt, ich kann eine vorgezogene Altersrente in Anspruch nehmen. Beispielsweise wenn ich 35 Jahre gearbeitet habe, kann ich die Rente mit Abschlägen vorzeitig in Anspruch nehmen und kann so viel hinzu verdienen wie ich möchte. Ich kann im Prinzip sogar Vollzeit weiterhin arbeiten gehen. Das macht wenig Sinn, aber ich könnte so viel arbeiten, wie ich möchte, und schon Rente flexibel beziehen. Die Möglichkeit gibt es, sie wird aber kaum genutzt,
SWR Aktuell: Seit 2014 gibt es die Rente mit 63. Wer 45 Jahre gearbeitet hat, kann ohne Abschläge mit 63 in Ruhestand gehen. Diese Möglichkeit nehmen auch immer mehr Menschen wahr. Was braucht es denn neben flexibleren Arbeitszeitmodellen noch, um Fachkräfte länger im Job zu halten?
Ehl: Bessere Arbeitsbedingungen, bessere Bezahlung! Also das sehen wir in vielen nachgefragten Berufen, dass einfach die Bezahlung zu schlecht ist, dass die Menschen lieber eine andere Stelle machen, für die sie vielleicht nicht mal ausgebildet sind, und dort immer bessere Arbeitsbedingungen vorfinden. Das ist natürlich eine Frage der Bezahlung. Auch der Mindestlohn von zwölf Euro ist eigentlich noch zu wenig. Und es ist auch eine Frage der Work-Life-Balance, auch eine Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Es gibt ein riesiges Fachkräftepotenzial beispielsweise bei Frauen, die sich eigentlich gerne eine höhere Stundenzahl wieder wünschen oder die wieder in den Beruf einsteigen möchten, die aber die Kinderbetreuung nicht organisiert bekommt, weil es zu wenig Kita-Plätze gibt.
SWR Aktuell: Kommen wir auf Dauer überhaupt drumherum, dass alle Erwerbstätigen in die Rentenkasse einzahlen - auch Beamte, damit das System in Zukunft noch funktioniert?
Für uns als VdK ist das schon eine alte Forderung, ja. Wir wünschen uns eine Erwerbstätigenversicherung für alle, die erwerbstätig sind, unabhängig davon, welcher Beruf und welche Gehaltshöhe das ist. Aber damit macht man sich nicht nur Freunde und das ist vor allen Dingen auch ein Projekt, das nur auf ganz, ganz lange Sicht möglich wäre und das den aktuellen Fachkräftemangel nicht beheben wird.
Das Interview führte SWR Redakteur Dirk Rodenkirch