Wieso man sich auch an Luftalarm gewöhnen kann und warum Humor in der Ukraine so wichtig ist: SWR-Reporterin Lena Bathge war sieben Tage mit einem Hilfstransport in der Ukraine.
Sie nennen es die "erkaltete Hölle" - das kleine Dorf Prudyanka, knapp dreizehn Kilometer vor der russischen Grenze. Kaum ein Stein steht hier mehr auf dem anderen, die großen Gartentore wurden von Granatsplittern durchlöchert, jedes zweite Dach ist mit Folien abgedichtet, die übrigen existieren gar nicht mehr.
Zwischen den Ruinen der Häuser eine Spur von Dorfidylle
Und dennoch kann man hier noch einen Hauch von Dorfidylle erhaschen, wenn man nur genau hinschaut. Es ist Hochsommer, die Felder und Wiesen rund um Prudyanka leuchten in einem satten Grün, der Himmel strahlt. Vor den Häusern - oder dem, was noch davon übrig ist - blühen Rosen und Jasmin. Diese Farben, denke ich, und: Wie nah Schönheit und Schrecken doch beieinander liegen können.
Noch am 24. Februar 2022 wurde Prudyanka von den russischen Soldaten eingenommen, erzählt uns ein Dorfbewohner in den Ruinen seines Hauses. Es ist komplett ausgebrannt, nur zwei Teekannen mit Goldrand haben das Inferno auf unerklärliche Weise überlebt. Hinterm Haus im Garten ist die Erde an mehreren Stellen kreisrund umgegraben. Minen, erklärt der Bewohner. Die russischen Soldaten hätten sie bei ihrem Rückzug dort vergraben, um der nachrückenden ukrainische Armee zu schaden. Inzwischen sei sein Garten aber geräumt worden. Überprüfen kann ich seine Angaben nicht.
Wir überlassen ihm ein Päckchen mit Lebensmitteln und treffen ein Stückchen weiter die Straße hinunter auf ein Ehepaar. Sie sind mit Gartenarbeit beschäftigt. Heimkehrer, die ihr Dorf nun wieder aufbauen wollen. Es ist warm, mindestens 27 Grad. Ich fange an, unter meinem Helm und der schusssicheren Weste zu schwitzen, und muss nun auch noch auf die Toilette.
Der Krieg schafft die absurdesten Situationen
Ohne großes Zögern deutet mir der Ehemann, ihm zu folgen. Wir gehen durch ein Gartentor, rechts von mir taucht sein zerstörtes Haus auf, dahinter liegt eine bessere Gartenhütte. "Da vorne links ums Eck", lautet die Anweisung. Ich finde mich in einem kleinen Bad wieder, öffne den Klodeckel und halte verdutzt inne. Da, auf der Klobrille, liegt ein lila Plüschaufleger.
An diesem Nachmittag lerne ich eine wichtige Lektion: Der Krieg schafft die absurdesten Situationen. Denn hier sitze ich nun, mit meinem Helm, meiner 14 Kilogramm schweren schusssicheren Weste auf einem lila Plüschaufleger in einem nahezu komplett zerstörten ukrainischen Dorf. Doch damit nicht genug.
Rote Rosen zum Dank
Als ich wieder in den Garten zurückkomme, kommt mir der Mann mit einer roten Rose entgegen. Er drückt sie mir in die Hand. Ein Zeichen des Dankes, nicht nur für das Lebensmittelpaket, das wir ihm und seiner Frau gebracht haben, sondern fürs Dasein im Allgemeinen, dafür 3.000 Kilometer zurückgelegt zu haben, um ausgerechnet ihnen zu helfen.
Immer wieder begegnet den Freiwilligen des Trierer Vereins "Viele Hände für die Hoffnung" die Frage: "Und ihr seid wirklich aus Deutschland hierher gefahren?" Zurück auf der Straße sieht seine Frau die Blume in meiner Hand und fängt unmittelbar an zu schimpfen: Was ihm einfiele, ihre Rosen abzuschneiden! Sie meint es nicht ernst, lacht im nächsten Moment, doch mir wird diese Situation wohl für immer in Erinnerung bleiben.
Auch an Luftalarm kann man sich gewöhnen
Genauso wie der Morgen danach: Zucker, Mehl, Pastete, Reis und Nudeln - die schwarze Plastiktüte in meiner Hand wird immer schwerer. Insgesamt 2000 Lebensmittel- und Hygienepakete packen wir für die Menschen in den Dörfern rund um Charkiv und Sloviansk. Im Radio läuft Abbas "Mamma Mia" und über allem tönt der Luftalarm.
Wir haben keine Zeit, uns darüber Gedanken zu machen. Es gibt zu oft Luftalarm, als dass man ständig alles stehen und liegen lassen könnte. Das ist ein Glücksspiel, das auch schief gehen kann, und dennoch eines, das die Menschen in Charkiv nun schon seit Monaten spielen. Der Gewöhnungseffekt tritt schnell ein, auch bei uns. Meinen ersten Luftalarm in der Ukraine verbringe ich noch schlafend im Keller unseres Hotels in Kyiv. Den zweiten am Morgen danach schon Zähne putzend im Bad und den dritten unter freiem Himmel beim Packen von Lebensmitteltüten, die ein Teil unseres Teams am nächsten Tag nach Sloviansk bringen wird.
Ein Hauch von Normalität im Kriegsalltag
Es geht um Normalität. Um Alltag. Darum, irgendwie das Leben auf die Reihe zu kriegen. Dauernd im Panikmodus herumzulaufen, hält niemand lange aus. Weder die Joggerin in Charkiv, die den Luftalarm mit Musik über Bluetooth-Kopfhörer ausblendet, noch die Frau mit dem Garten voll russischer Munitionskisten. Ihr Grundstück liegt noch immer in Schutt und Asche, doch sie hat schon mal Blumen gepflanzt. Rot und gelb gemusterte Chrysanthemen.
Gleich neben ihrem Haus liegt ein Waldstück, in dem die russischen Soldaten gehaust haben, erzählt sie. Wir stehen rund fünfzehn Meter vom Waldrand entfernt, als sich in einer Baumkrone ein großer Ast löst und in Richtung Boden stürzt. Für einen Moment steht die Zeit still, alle halten die Luft an, denn worauf der Ast landen wird, kann niemand so genau sagen. Dann erleichtertes Aufatmen, die Frau macht einen Witz und lacht.
Heldengeschichten für die Moral
Diese Resilienz, der Widerstand gegen den Krieg finden sich überall, aber vor allem in den Heldengeschichten, die sich wie ein Lauffeuer in der Ukraine herumsprechen. Da ist etwa die Geschichte der 18-jährigen jungen Frau, die mit ihrem Traktor einen russischen Panzer abgeschleppt und geklaut haben soll, als dessen Besatzung auf der Suche nach Diesel war.
Oder die der russischen Soldaten, die ausgerechnet in einer ukrainischen Polizeiinspektion nach Sprit gefragt und anschließend ihren eigenen Panzer zerschossen haben sollen. Sie hatten ihn fälschlicherweise für ein Fahrzeug der ukrainischen Armee gehalten, nachdem Dorfbewohner eine Ukraine-Flagge daran befestigt hatten.
Das Weinen kommt automatisch
Das Lachen über diese Geschichten ist wichtig. Lachen ist gut für die Moral, denn das Weinen kommt sowieso. Irgendwann holt es uns ein. Vor dem Haus, in dessen Keller 50 Menschen, darunter Kinder, gleich zu Beginn des Krieges starben, und deren Leichen erst vor wenigen Wochen geborgen werden konnten. In der Auffangstation für zurückgelassene Hunde. Hunderte von ihnen und jeder einzelne steht für eine Familie, die getötet oder vertrieben wurde. Und im Gespräch mit der jungen Verkäuferin in Kup'yans'k.
Mir fällt als erstes ihr T-Shirt auf, schwarz mit Monden und Sternen drauf, dann ihre weiß-blond gefärbten Haare und zuletzt ihre Augen. Ihr Blick ist weit, weit weg. Wir fragen sie, wie sie mit den dauernden Bombardierungen zurecht kommt. "Das Schlimmste haben wir schon überstanden. Alles, was jetzt kommt, ist besser als die russische Besatzung", sagt sie. Wir fragen nicht weiter nach, was genau sie erlebt hat, wollen keine Retraumatisierung durch unbedachte Fragen riskieren.
5/25 - Regeln für das Überleben
Die Stadt Kup'yans'k liegt nur etwa drei bis fünf Kilometer vor der aktiven Front. Zusammen mit der ukrainischen Hilfsorganisation bringen wir Lebensmittel und Hygieneprodukte zu den hier stationierten Soldaten. Sie weisen uns an, unsere Bullis unter dem Dach einer Tankstelle zu parken, damit Aufklärungsdrohnen sie von oben nicht sehen können. Mir fällt wieder die 5/25-Regel ein, die wir zu Beginn unserer Fahrt erklärt bekommen haben, und ich schaue mich um. Zuerst auf einem Radius von fünf Metern. Wo ist eine Mauer oder eine Mulde im Boden, in die ich mich bei Beschuss werfen kann? Dann auf den 25 Metern danach: Gibt es hier noch besser geschützte Verstecke?
Kup'yans'k: Wo die Hölle noch heiß ist
In einiger Entfernung grollen kurz hintereinander drei Explosionen. Unsere Begleiter der ukrainischen Armee bleiben entspannt. Es ist ausgehendes Artillerie-Feuer, kein Grund zur Sorge. Trotzdem läuft im Kopf die ganze Zeit das Radar mit: Jedes Geräusch wird eingeordnet, jede Reaktion der Soldaten bewertet, alle paar Meter das direkte Umfeld abgesucht.
Anders als Prudyanka ist Kup'yans'k noch nicht erkaltet, die Hölle hier ist heiß: Als wir eine Stunde später zurück in Charkiv sind und dort aus den Transportern steigen, kommt die Nachricht, dass Kup'yans'k in diesem Moment gerade wieder beschossen wird. Ich denke an die junge Verkäuferin und hoffe, dass sie unversehrt bleibt.