50 Jahre nach seiner Schulzeit in Gerolstein hat Marzellus Boos aufgeschrieben, was ihm im früheren katholischen Internat Albertinum von Priestern und Erziehern angetan wurde.
"Das ist der Ort, wo wir unsere Kindheit und Jugend verloren haben", sagt Marzellus Boos. Er steht vor dem heute verlassenen Gebäude des ehemaligen katholischen Internats Albertinum in Gerolstein. Boos war bis 1974 neun Jahre lang dort im "Knast", wie er und seine Mitschüler die Einrichtung nannten. Über diese Zeit hat er ein sehr persönliches Buch veröffentlicht. Der Titel lautet: "Tatort Albertinum".
Die eigenen Erlebnisse erst jahrzehntelang verdrängt
In dem Buch geht es um die körperliche und seelische Gewalt, die ihm dort als Junge von Priestern und Erziehern angetan wurde. An einem Ort, an dem seine Eltern ihn (Jahrgang 1955) und seinen Bruder (Jahrgang 1954) besonders gut untergebracht glaubten.
"Ich hatte als Erwachsener lange verdrängt, was im Albertinum passiert ist, mir aber immer vorgenommen, alles aufzuschreiben, wenn ich mal in Rente bin", sagt Marzellus Boos. Ein weiterer Grund für das Buch sei sicher auch der Suizid seines Bruders im Jahr 2016 gewesen, so Boos. Er glaube ihm das schuldig zu sein, die Erlebnisse im Albertinum festzuhalten.
Erinnerungen kamen mit Wucht wieder hoch
Marzellus Boos hatte schon mit dem Schreiben seines Buches begonnen, bevor das Bistum Trier eine unabhängige Aufarbeitungskommission einsetzte, die von 2020 bis 2022 die Ereignisse untersuchte und in einem Abschlussbericht physische, psychische und sexualisierte Vergehen an vielen Schülern des Internats dokumentierte, woraufhin das Bistum finanzielle Wiedergutmachung leistete.
Durch die Arbeit der Aufarbeitungskommission und auch durch die folgenden Presseberichte seien die Erinnerungen in ihm wieder mit Wucht hochgekommen, erklärt Boos.
"Immer wieder musste ich an Episoden von damals denken. Wie ich einmal zu spät zurück ins Internat kam und vor allen anderen demonstrativ geschlagen wurde. Wie ich beim gemeinsamen Schulessen keinen Hunger mehr hatte und gezwungen wurde, immer mehr Suppe zu schlucken, bis ich mich erbrechen musste." Besonders schlimm sei im Albertinum aber die emotionale Kälte und der seelische Druck gewesen.
"Meine todkranke Mutter lag zu Hause im Sterben, aber ich konnte mit niemandem darüber oder über meine Probleme sprechen". Dafür sei besonders ein Erzieher verantwortlich gewesen, den alle "Plato" nannten. "Der hat den Stil und die pädagogische Richtung des Internats geprägt." Ein deutscher Junge weine nicht, habe es zum Beispiel geheißen. "Plato" sei es gewesen, der sich einmal beim Generalvikariat beschwerte, weil ihm die Priester noch zu lasch mit den Schülern umgesprungen seien. "Er war ein ausgemachter Kinderquäler", so Boos.
Dieser "Plato" ist Marzellus Boos in seinem Buch ein besonderes Anliegen, weil er im Albertinum so eine tragende Rolle gespielt habe, man aber kaum etwas Verlässliches über ihn wisse. "Was mich bei meiner Recherche sofort stutzig machte, war die Aussage des Bistums, man habe über den Mann keine Kenntnis. Der sei nicht in den Akten."
Fand ein Nazi-Täter Unterschlupf im Albertinum?
Im Landesarchiv Koblenz sei er dann fündig geworden, so Boos. Statt wirklicher Antworten zu dem Mann seien allerdings viele weitere Ungereimtheiten aufgetreten. Angefangen von offenbar falschen Angaben zu "Platos" Geburtsort und seinem weiteren Lebenslauf, vor allem in der Zeit des Nationalsozialismus. Später nach dem Krieg sei der Mann auffallend protegiert worden.
Verdachtsmomente sind das. Keine Beweise. Das weiß Boos. "Ich fasse Indizien zusammen, dass er nicht der war, für den er sich ausgab." Aufgrund seiner Recherchen und Erlebnisse aus der Schulzeit glaubt Boos, dass es sich bei "Plato" um einen Nazi-Täter handeln könnte, der nach dem Krieg im Albertinum Unterschlupf fand und dort sein Unwesen trieb. Inzwischen habe er dafür noch weitere Indizien gefunden.
Der wissenschaftlichen Herangehensweise der Aufarbeitungskommission mit einer Auflistung zahlreicher Einzelschicksale steht nun mit Boos’ Buch "Tatort Albertinum" die ausführliche Darstellung eines Betroffenen gegenüber, der über seinen Leidensweg spricht und weitere Fragen aufwirft.
"Wenn man das, was ich und viele andere im Gerolsteiner Internat erlebt haben, in die Sprache der Wissenschaft transponiert, dann nimmt man den Ereignissen das entsetzliche", sagt Boos. Die historische Distanz wirke zusätzlich relativierend. Daher habe er den Drang verspürt, seine Geschichte so zu erzählen, wie seine Erinnerung es zulässt.