Gefahren kann er nicht erkennen: Philipp aus dem Hunsrück hat das Fetale Alkoholsyndrom. Seine Mutter hat in der Schwangerschaft Alkohol getrunken. Wie er sein Leben meistert.
Als sich die Tür zur Wohngruppe für Kinder und Jugendliche mit dem Fetalen Alkoholsyndrom, kurz FASD öffnet, steht vor mir ein junger Mann, durchschnittlich groß, ein herzliches Lächeln auf dem Gesicht, in faltenlos gebügeltem weißen Hemd und ockerfarbener Hose. Ein smarter Look, als käme er gerade von einem Geschäftsessen. Philipp ist 20 Jahre alt. Wir duzen uns. Im ersten Moment merkt man ihm nicht an, dass er das Fetale Alkoholsyndrom und damit eine geistige und körperliche Beeinträchtigung hat. Früher habe ihn das oft gestört, erzählt er mir.
FASD oft von außen nicht erkennbar
"Wenn jemand im Rollstuhl sitzt, dann verstehen die Menschen sofort, warum die Person vielleicht hier und da Hilfe bei etwas braucht", meint Philipp. Bei ihm sei das nicht so, er habe keine nach außen hin erkennbare Beeinträchtigung. "Die Leute erkennen das nicht und verstehen dann auch nicht, warum etwas für mich nicht so funktioniert wie für andere."
Er habe sich dann oft anhören müssen, er solle sich nicht so anstellen. Bis zu seiner Diagnose im Alter von zehn Jahren weiß Philipp nicht, was mit ihm nicht stimmt. Er weiß nur, dass er vermeidbare Fehler macht und das immer und immer wieder. Das frustriert, er fühlt sich unverstanden. Denn die rund 10.000 Kinder, die laut Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung jedes Jahr mit FASD in Deutschland geboren werden, lernen anders als Kinder ohne Beeinträchtigung.
Risiken einschätzen, Gefahren erkennen - ein Problem
So kann Philipp zum Beispiel keine Gefahren erkennen oder diese richtig einschätzen. "Ich bin einfach über die Straße gelaufen, weil ich nicht verstanden habe, wieso die Autofahrer mich nicht sehen", erzählt er, obwohl ihm schon mehrfach erklärt wurde, dass es so nicht geht. "Für mich war das jedes Mal wieder, als würde ich zum ersten Mal über die Straße gehen. Jemand musste mir immer wieder sagen, guck links, guck rechts."
Philipp lernt durch Routine und Wiederholungen. Es sind die alltäglichen Dinge, die ihm besonders zu schaffen gemacht haben: Duschen, Ankleiden, im Haushalt helfen. Dinge also, die den meisten Menschen ganz selbstverständlich von der Hand gehen.
Pädagogische Konzepte funktionierten bei Philipp nicht
"Kinder mit FASD sind die, die überall auffallen und überall rausfliegen", erklärt Ulrike Mai vom FASD-Beratungsnetzwerk BINE für Rheinland-Pfalz und das Saarland. Sie ist eine der Betreuerinnen der Wohngruppe und hat gemeinsam mit Kolleginnen das Beratungsnetzwerk für FASD-Betroffene aufgebaut.
"Philipp war unser Kind X. Als er in unsere Wohngruppe kam, mussten wir uns von allen pädagogischen Konzepten verabschieden, weil wir mit ihm einfach nicht weiter kamen", berichtet Mai. Philipp ist sieben, als er in die Wohngruppe kommt, zuvor hat er schon mehrere Jahre in einer Pflegefamilie gelebt, wie etwa 70 Prozent aller betroffenen Kinder, so Mai.
Betreuerin sagt: "FASD ist nach wie vor nicht bekannt genug."
Die Betreuerinnen der Wohngruppe recherchieren, denn es muss schließlich einen plausiblen Grund für Philipps Verhalten geben. Drei Jahre dauert es noch, bis die Diagnose FASD in einer Fachklinik bestätigt wird. "Das Syndrom ist immer noch viel zu wenig bekannt, angefangen bei der Hebamme durch alle Systeme hinweg", beklagt Mai.
Vor allem Rheinland-Pfalz sei in dieser Hinsicht noch ein weißer Fleck auf der Landkarte. Dabei ist FASD vermeidbar, denn es wird durch den Konsum von Alkohol während der Schwangerschaft verursacht. "Alkohol ist ein Nervengift und verursacht beim ungeborenen Kind schwere Schäden", sagt Mai.
Komplizierte Gefühle für seine leibliche Mutter
Für Philipp bedeutet das, er lebt mit den Konsequenzen eines Fehlers, den seine leibliche Mutter gemacht hat. Wie geht er damit um, will ich von ihm wissen. "Ich habe mir früher manchmal gewünscht, dass sie auch mal so krank ist wie ich. Damit sie weiß, wie das ist", erzählt er. Doch inzwischen habe er gelernt, loszulassen. Denn eine Erklärung, geschweige denn eine Entschuldigung, sieht er nicht mehr am Horizont.
"Das hat mich einfach nur runtergezogen und wütend gemacht. Und so wollte ich nicht durchs Leben gehen." Zu seiner leiblichen Familie hat er deshalb keinen Kontakt mehr. "Die Wohngruppe hier ist das Beste, was mir passieren konnte", ist Philipp überzeugt.
Statt sich also über die Vergangenheit zu ärgern, schaut Philipp lieber nach vorn. Inzwischen lebt er nicht mehr in der Wohngruppe, sondern in einem Apartment nebenan. Er hat einen Job als Hausmeistergehilfe in einem Seniorenheim. "Der Träger des Heims wollte mir ein richtiges Gehalt zahlen", erzählt er stolz. Ein Job auf dem ersten Arbeitsmarkt, noch dazu mit einem Regelgehalt, ist für viele Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung noch immer unerreichbar, meint auch Ulrike Mai.
Nur Vier-Stunden-Arbeitstag
"Die Alternative für Philipp wäre ein Job in einer Behindertenwerkstatt gewesen", sagt sie. Es fehle immer noch an Arbeitgebern, die bereit seien, auf Menschen wie Philipp zuzugehen. Der Träger des Seniorenheims ist für Philipp ein Glücksgriff. Vier Stunden arbeitet er nun täglich im Hausmeisterdienst des Seniorenheims mit. Mehr schafft er körperlich nicht. Auch das ist dem FASD geschuldet.
Philipp hat gelernt, damit umzugehen. Er hat einen Job, der ihm Spaß macht, Freunde, die bereit sind, auf seine besonderen Umstände Rücksicht zu nehmen, die Pferde auf dem Sonnenhof, zu dem die Wohngruppe gehört, um die er sich liebevoll kümmert, und einen Rasenmähertraktor. Den hat er sich gekauft, weil er aufgrund des FASD nicht Auto fahren darf. Jetzt dreht er also auf den Wiesen des Sonnenhofs seine Runden. Wie er in die Zukunft blickt, frage ich ihn.
Philipp schmiedet Pläne für die Zukunft
Philipp grinst. Er hat zwei große Wünsche. In den nächsten Jahren würde er gern in eine eigene Wohnung ziehen, die nicht auf dem Gelände der Wohngruppe ist. "Ich will so weit ich kann auf eigenen Beinen stehen, sodass vielleicht nur noch ein oder zwei Mal in der Woche ein Betreuer vorbeikommen muss", erzählt er.
Und ansonsten will er sich dafür einsetzen, dass mehr Menschen über FASD Bescheid wissen. Dafür hat er sogar einen eigenen Song geschrieben. "Vielleicht brauchen wir ein bisschen mehr Hilfe als andere, aber niemand geht jemals ganz ohne Unterstützung durchs Leben", meint Philipp. "Ich will anderen Menschen mit FASD Mut machen und ihnen zeigen, dass man es trotzdem schaffen kann."