Die Universität Trier hat einen Bericht zu sexuellem Missbrauch im Bistum Trier zur Amtszeit von Bischof Stein (1967-1981) und seinen Umgang mit Missbrauchsfällen veröffentlicht.
81 Priester sind beschuldigt, in diesem Zeitraum mehr als 200 Kinder und Jugendliche missbraucht zu haben, legt die Studie offen. Weitere 100 Kinder und Jugendliche wurden von diesen Tätern vor und nach Steins Amtszeit missbraucht. Historikerinnen und Historiker haben für den Bericht fast 500 Personalakten des Bistums Trier ausgewertet. Außerdem haben sie mit vielen Betroffenen gesprochen. Etwas, das Bischof Stein in seiner Amtszeit in keinem einzigen der ihm bekannten Fälle getan hat. Jedenfalls gibt es dazu keinerlei Hinweise.
Geheimhaltung für Kirche oberstes Gebot
Obwohl auch das Kirchenrecht für sexuellen Missbrauch von Kindern durch Priester harte Strafen wie Amtsenthebung vorsieht, wurde von Bischof Stein, wie von seinen Vorgängern, dieses Recht nur in Einzelfällen angewandt. Das belegen Bistumsakten. 17 Missbrauchsfälle waren Bischof Stein nachweislich während seiner Amtszeit bekannt, mit 11 Fällen war er direkt befasst, so der neue Bericht der Universität.
Bischof Stein schonte Priester, so die Universität in ihrer Studie. Er habe Täterschutz betrieben. Er habe so weit wie möglich vom Kirchenstrafrecht abgesehen, das durchaus vorsah, sexuellen Missbrauch hart zu bestrafen. Er habe die Fürsorge für von Missbrauch betroffene Kinder und Jugendliche sträflich vernachlässigt, so das Fazit der Historiker. Er habe die Folgen für betroffene Kinder und Jugendliche ausgeblendet.
Menschen, die als Kinder sexuell missbraucht wurden, leiden darunter bis heute. Viele können auch bis heute nicht darüber reden, sagt ein Mann, der als 9-Jähriger immer wieder von einem Kaplan missbraucht wurde. Er habe sich niemandem anvertrauen können, Ende der 60er Jahre sei es vollkommen tabu gewesen, einen Geistlichen zu kritisieren.
Ein Junge habe sich seinen Eltern anvertraut, die hätten ihn danach mit einem Ledergürtel grün und blau geschlagen. Zu Bischof Steins Verhalten gegenüber den Tätern sagt er, er habe sein Amt missbraucht, um Missbrauch zu vertuschen.
Bischof Stein verordnete Exerzitien im Kloster
Die Studie der Universität stellt den Fall eines Täters dar, der schon als Kaplan 1965 des mehrfachen sexuellen Missbrauchs beschuldigt wurde. Die Mutter eines 13-jährigen Jungen hatte deshalb ans Bistum geschrieben.
Sie bekam nie eine Antwort. 1968 schrieb Bischof Steins Offizial ihm einen eindringlichen Brief, forderte, dass der Täter wegen des sexuellen Missbrauchs nach Kirchenrecht bestraft werden müsse. Bischof Stein wusste von den Missbrauchsfällen. Er ordnete aber lediglich Exerzitien an und übertrug dem Kaplan 1968 sogar seine erste Pfarrstelle.
Niemand dachte an den Schutz der Opfer
Der Fall A, wie er im nun veröffentlichten Bericht genannt wird, missbrauchte als Kaplan und Priester zwischen 1962 und 1973 mindestens 22 Jungen und Mädchen. Die Forscher gehen von einer hohen Dunkelziffer aus.
Der junge Priester gab sich locker, spielte Fußball mit Jugendlichen, ging mit ihnen in Kneipen, trug im Jugendzentrum legere Zivilkleidung, fuhr Cabrio. Er nutzte seine kumpelhafte Beziehung zu Jugendlichen gezielt für sexuellen Missbrauch aus, so Betroffene. 1973 schied der Priester auf eigenen Wunsch aus dem Dienst aus, weil er heiraten wollte. Er arbeitete später als Sozialpädagoge - wieder mit Kindern und Jugendlichen.
Opfer werden als Lügner beschimpft
Viele Menschen, die als Kinder und Jugendliche von Geistlichen sexuell missbraucht worden waren, meldeten sich erst nach 2010. Der Bericht der Universität macht deutlich, warum das so ist. Viele von Priestern missbrauchte Kinder fanden bei niemandem Gehör und Beistand, nicht einmal bei den eigenen Eltern.
Oft hatten die beschuldigten Priester ein enges freundschaftliches Verhältnis zu den Eltern der Kinder. Dazu kam das hohe Ansehen der Pfarrer und die Angst vieler Menschen vor Gerede.
Die wenigsten Kinder wagten es, mit jemandem über den sexuellen Missbrauch zu reden. Was Betroffene für den Bericht der Universität schildern, ist erschütternd. Oft glaubten die Eltern ihren Kindern nicht, sagen Betroffene. Die Eltern ermahnten ihre Kinder, mit niemandem zu reden, sonst würden die anderen sie als Lügner bezeichnen.
Laut Bericht wandten sich bei den zu Bischof Steins Amtszeit bekannten Missbrauchsfällen nur ein Drittel der Eltern ans Bistum oder die Staatsanwaltschaft. Vertrauten sich betroffene Kinder Lehrerinnen oder Lehrern an, war das anders, so der Bericht. Diese Fälle wurden alle dem Bistum, teils auch der Staatsanwaltschaft bekannt. Priester wurden danach aus dem Schuldienst entlassen, teilweise strafrechtlich verurteilt.
Nicht nur die Kirche schützte die Täter
Priester hatten in kleinen ländlichen Gemeinden hohes Ansehen, waren bestens vernetzt mit weltlichen Würdenträgern wie Bürgermeistern. Der Bericht der Universität schildert den Fall eines Priesters, der in einer Gemeinde schon 1972 des sexuellen Missbrauchs beschuldigt wurde. Ein 24-jähriger Mann hatte ans Bistum geschrieben, er sei als Jugendlicher im Ferienlager von ihm missbraucht worden.
Im Dorf wird der 24-Jährige verunglimpft. Bürgermeister und Pfarrgemeinderat nötigen ihn in einem Gespräch, eine Widerrufserklärung zu unterschreiben. Im Dorf gibt es eine Unterschriftenaktion für den Pastor. Die Verantwortlichen im Bistum holen bei "vertrauenswürdigen" Polizisten Informationen über Ermittlungen ein. Der Pastor wird nicht versetzt, sondern bleibt bis zum Jahr 2000 in der Gemeinde.
Verantwortung von Bischof Stein
Stein hatte schon als junger Priester von Fällen von sexuellem Missbrauch im Bistum Trier Kenntnis, so der Bericht der Universität Trier. Als Weihbischof war er sogar direkt in einen Fall involviert, später als Ortsbischof von Trier.
Ein Priester, der ein 9-jähriges Mädchen sexuell missbraucht hatte, wurde aber lediglich in eine andere Pfarrei versetzt. Der Bericht legt nun offen, dass Stein in keinem der ihm bekannten Fälle die Staatsanwaltschaft informierte. Er folgte der Linie der Kirche, Missbrauchsfälle geheim zu halten. Nicht immer gab es Vermerke in Personalakten. Ort wurde in Personalkonferenzen nur mündlich verhandelt, was Tagesordnungen von Personalsitzungen im Bistumsarchiv belegen. Beschuldigte Priester wurden meist versetzt. Kinder und Jugendliche wurden nicht beschützt.
Einige des sexuellen Missbrauchs beschuldigte Priester setzten sich nach Lateinamerika ab, um Strafverfolgung zu entgehen. In Bolivien oder Brasilien waren sie weiter als Seelsorger im Einsatz. Der Bericht der Universität nennt einen Fall, in dem das Bistum Trier der Staatsanwaltschaft nicht die Adresse des beschuldigten Priesters in Lateinamerika gab, obwohl dorthin Kontakte bestanden.
Missbrauchsopfer im Bistum Trier sehen sich durch den Bericht der Universität bestätigt. In diesem Jahr hatte der selbst von Missbrauch betroffene Vorsitzende von MissBit, Historiker Dr. Thomas Schnitzler, eine umfassende Dokumentation zu Missbrauch im Bistum Trier veröffentlicht. Der Verein MissBit fordert als Reaktion auf den jetzt veröffentlichten Bericht der Universität erneut, den Bischof-Stein-Platz umzubenennen.
Außerdem solle dem ehemaligen Bischof die Ehrenbürgerwürde entzogen werden. Im Trierer Stadtrat hatte es dazu im Februar schon eine Expertenanhörung gegeben. Im März hatte der Stadtrat eine Entscheidung vertagt. Man wolle zunächst den nun vorliegenden Bericht der Universität abwarten. Inzwischen hat sich der Trierer Stadtvorstand für eine Umbenennung des Bischof Stein Platzes ausgesprochen. Auch der Trierer Hauptausschuss gab eine Empfehlung an den Stadtrat ab. Die Entscheidung steht für die Stadtratssitzung am 1. Februar 23 auf der Tagesordnung.
Missbit e.V. fordert auch den Rücktritt des amtierenden Trierer Bischofs Ackermann. Seit 2010 wisse er von den Missbrauchsfällen in der Amtszeit von Bischof Stein, er habe aber vorgezogen, dazu zu schweigen. Er decke seinen Vorgänger und habe die versprochene Aufarbeitung bewusst verschleppt. Ackermann war von 2010 bis September 2022 Missbrauchsbeauftragter der Deutschen Bischofskonferenz. Ein Schuldeingeständnis und die Offenlegung eigener Fehler seien das Mindeste, das er der Öffentlichkeit schulde, so MissBit e.V.
Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs im Verantwortungsbereich des Bistums Trier (UAK) hatte die Studie der Universität in Auftrag gegeben. Der Bericht zur Amtszeit von Bischof Stein ist Teil eines größeren historischen Forschungsprojekts, das sich mit sexuellem Missbrauch im Bistum Trier von 1946 bis 2021 beschäftigt. Historikerinnen und Historiker haben im Februar damit begonnen. Auch der Umgang mit bekannten Missbrauchsfällen in der Amtszeit von Bischof Ackermann wird noch untersucht.
Die UAK fordert von der aktuellen Bistumsleitung, sich deutlich und glaubwürdig von diesem systemischen Versagen zu distanzieren, deren Ursachen vollständig zu beseitigen und die Folgen zu mildern.
Erste Reaktion des amtierenden Bischofs Ackermann
Der amtierende Trierer Bischof Ackermann distanzierte sich nach der Veröffentlichung des Berichts von dem darin aufgezeigten Umgang Bischof Steins mit Fällen sexueller Gewalt im Bistum Trier. "Wir werden weiter entschieden daran arbeiten, geschehenes Unrecht aufzuarbeiten, gemeldete Fälle so weit wie möglich aufzuklären und Missbrauch wirksam zu verhindern“, so Ackermann.
Der Bericht dokumentiere von unabhängiger Seite das, was sich für die heute Verantwortlichen schon in der Befassung mit Fällen abzeichnete, die in die Amtszeit Bischof Steins fielen. Es habe in der Mehrzahl der Fälle keinen ordnungsgemäßen und vor allem keinen betroffenenorientierten Umgang mit den Fällen sexueller Gewalt gegeben.
In ihrem Ergebnis verstärke die Studie die Hinweise, die die UAK in ihrem ersten Zwischenbericht im August 2022 gegeben hatte. Mit Blick auf die dort gegebenen Empfehlungen, kündigte Ackermann eine neue Ordnung zur Frage der wirksamen Aufsicht von Tätern an, die zum 1. Januar 2023 in Kraft trete.
Die Historiker, die den Umgang mit sexuellem Missbrauch im Bistum Trier zwischen 1946 und 2021 untersuchen, hoffen, dass sich weitere von Missbrauch betroffene Menschen melden. Viele schweigen aus Angst bis heute darüber.