Für Obdachlose war der Platz unter der Binger Bahnbrücke einst der ideale Wohnplatz. Auch das Weihnachtsfest feierten sie dort. Bis vor 15 Jahren die Landesgartenschau kam.
Die kleine Gruppe von Obdachlosen rund um Michael Braun, genannt Brauni, hatte sich in den 1990er Jahren den Platz am Rhein ausgesucht. Die Brücke über die Bahnlinie im Osten der Stadt war nahezu ideal. Etwas abgelegen, dazu ein etwa 20 Meter breiter Brückenpfeiler als Wetterschutz, mehr brauchten die Obdachlosen damals nicht.
Aus Provisorium wurde kleine Zeltstadt am Rhein
Zunächst hatten sie nur eine Plane, darunter Isomatten, Decken und Schlafsäcke. Sommer wie Winter schliefen sie dort draußen. Im Laufe der Zeit brachten die Binger immer mehr Spenden zu den Obdachlosen: Matratzen, Stühle, Sofas und sogar große Zelte. "Eine super Sache", schwärmt Brauni heute. Irgendwann hatten sie ein eigenes Küchenzelt, jeder sein eigenes Schlafzelt und ein Bürozelt. So nannten die Obdachlosen ihre Gemeinschaftsunterkunft.
Lametta und Kugeln am Lagerfeuer
Die Stimmung untereinander sei gut gewesen. "Streit konnten wir uns hier draußen nicht erlauben", beschreibt er die Zeit mit seinen Kumpels. Jahr für Jahr begingen die Männer auch das Weihnachtsfest gemeinsam. Tannenbaum, Christbaumkugeln und Lametta neben einem Lagerfeuer ließen auch unter der Brücke so etwas wie Weihnachtsstimmung aufkommen. Oftmals, erinnert sich Brauni, kamen Freunde zu Besuch.
Stadt Bingen räumt Zeltstadt wegen Landesgartenschau
Die Idylle endete jäh im Jahr 2007. Die Stadt Bingen bereitete damals die Landesgartenschau 2008 vor. Sie sollte das Rheinufer der Stadt revitalisieren. Den Stadtoberen waren die Obdachlosen unter der Brücke offensichtlich ein Dorn im Auge. Touristen sollten die Menschen unter der Brücke wohl besser nicht zu Gesicht bekommen. Im Spätherbst vor 15 Jahren klebten plötzlich orangefarbene Zettel an den Zelten. Wie bei einem abgestellten Auto, lächelt Brauni. Auf den Zetteln setzte die Stadt Bingen den Obdachlosen eine Frist, in der sie den Platz räumen mussten.
Obdachlose vermissten Alternativangebot
Schweren Herzens packten die Männer um Brauni ihre Sachen. Zumindest all das, was sie auf ihre Fahrräder bekamen. Matratzen und Möbel entsorgte die Stadt. Es war das Ende eines friedlichen und kooperativen "Freiluft-Wohnprojekts". Die Stadt Bingen hat sich mit ihrer Räumung bei den Obdachlosen keine Freunde gemacht, zumal den "Vertriebenen" nach Angaben des Binger Sozialarbeiters und Obdachlosen-Kenners Ralf Blümlein bis heute keine Alternativen angeboten wurden.
"Zu alt für die Straße" - Weihnachten im Warmen
Die Gruppe zerfiel, jeder suchte sich sein eigenes Plätzchen zum schlafen. Brauni selbst ist inzwischen glücklich verheiratet und wohnt mit seiner Frau zusammen - in einer echten Wohnung. "Mit fast 60 bin ich zu alt für die Straße", erklärt Brauni seine Wandlung. Das Weihnachtsfest feiert er in diesem Jahr übrigens auch. Wie einst mit Weihnachtsbaum und Christbaumkugeln - aber jetzt in einer warmen und trockenen Wohnung.