Der Generalvikar des Bistums Speyer warf im Sommer seinen Job hin, weil er keine Reformen in der katholischen Kirche sah. Wie geht es Andreas Sturm heute als Pfarrer einer altkatholischen Gemeinde?
SWR Aktuell: Sie sind im August aus dem Bistum Speyer nach Singen in Baden-Württemberg gewechselt und jetzt Pfarrer bei den Altkatholiken. Wie geht es Ihnen?
Andreas Sturm: Ich fühle mich sehr wohl hier. Die Menschen in der Gemeinde sind sehr offen und begegnen mir sehr herzlich. Und ja, ich komme hier langsam richtig gut an. Es ist toll.
SWR Aktuell: Wie muss man sich denn ihren neuen Alltag als Pfarrer in Singen und Sauldorf vorstellen?
Sturm: Ganz viel Arbeit mit und an den Menschen und viele Gespräche. Und ich habe viel Zeit für die Seelsorge, weshalb ich ja eigentlich immer Priester werden wollte.
SWR Aktuell: Der Wechsel vom Generalvikar an der Spitze des Bistums Speyer zum Pfarrer in einer altkatholischen Gemeinde - wie schwer ist diese Lebensumstellung für Sie gewesen?
Sturm: Es ist schon eine ziemliche Umstellung, weil mein Alltag früher einfach auch durch sehr viele Sitzungen geprägt war. Ich hatte im Bistum ein Team um mich herum, mit denen ich viele Sachen besprochen, bearbeitet und vorbereitet habe. Jetzt bin ich ganz stark auf mich gestellt, unterstützt von sehr engagierten Frauen und Männern im Kirchenvorstand. Aber was das Hauptamt angeht, da bin ich der Einzige. Und das verändert natürlich das Arbeiten schon enorm.
SWR Aktuell: Als Gemeindepfarrer haben Sie wieder mehr persönlichen und unmittelbaren Kontakt zu den Gläubigen. Wie geht es Ihnen damit?
Sturm: In der altkatholischen Kirche gibt es das Kirchencafé im Anschluss an den Gottesdienst, das manche ein bisschen spöttisch das "achte Sakrament" nennen. Wir bleiben dann einfach noch zusammen und erzählen. Da ergeben sich sehr viele Gespräche mit Gemeindemitgliedern, aber auch mit Interessierten, die einfach mal vorbeikommen und schauen wollen: Wie ist der Neue? Oder was machen die Altkatholiken? Das ist einfach eine sehr spannende Situation. Da trifft man einfach auf Menschen mit ihren Fragen, Sorgen und Problemen, aber auch mit ihren Freuden. Da ist alles dabei!
SWR Aktuell: Gibt es trotzdem Dinge, die Sie aus Ihrem alten Leben vermissen?
Sturm: Ich sage mal so: Ich war schon mit Leib und Seele Pfälzer! Die Pfalz fehlt mir natürlich manchmal. Der Menschenschlag hier ist sehr herzlich, aber es ist einfach anders. Und mir fehlen die Menschen, die mir über viele Jahrzehnte wichtig waren und Freunde geworden sind. Meine Familie ist auch sehr viel weiter weg. Das sind natürlich schon Dinge, die mir fehlen.
SWR Aktuell: Sie haben die katholische Kirche verlassen und sind zu den Altkatholiken konvertiert – einer moderneren Kirche, in der zum Beispiel Frauen Priesterinnen werden können und auch Homosexuelle gesegnet werden. Wie sehr genießen Sie das?
Sturm: Ich würde einfach sagen, die Grundvoraussetzungen sind hier gegeben. Hier könnten Frauen Priesterin werden, auch wenn jetzt in meiner Gemeinde eben ein Mann als Priester tätig ist, nämlich ich. Wir segnen Homosexuelle, wiederverheiratete Geschiedene und auch evangelische Christen und andere Konfessionen gehen bei uns ganz selbstverständlich mit zur Kommunion und sind beim Abendmahl dabei. Da ist schon eine große Offenheit, die ich vermisst habe in meiner früheren Position und Kirche. Das tut mir gut. Aber nach einem halben Jahr ist noch alles sehr frisch. Da gilt es, die Sachen noch mehr kennenzulernen. Hier gibt es sicher auch Dinge, bei denen ich merke, dass man da sicher noch "nachsteuern" kann. Aber das ist doch in Ordnung! Ich wollte ja nicht ins Paradies wechseln, sondern ich wollte in eine Kirche wechseln, wo ich mit engagierten Frauen und Männern gemeinsam auf dem Weg bin und wir auch was verändern können bei uns vor Ort.
SWR Aktuell: Sie haben ja Ihr Amt hingeworfen, weil Sie kritisieren, dass es kaum Reformen innerhalb der katholische Kirche gibt. Auch die Reformbewegung Synodaler Weg scheint momentan wenig zu bewegen. Löst das bei Ihnen jetzt noch mehr als ein Achselzucken aus?
Sturm: Es geht mir nicht darum, jetzt mit dem Finger auf andere zu zeigen. Ich habe schon immer gesagt, dass ich es sehr belastend finde, zu erleben, wie viele hochengagierte Leute jetzt ebenfalls resignieren und die Hoffnung aufgeben. Und denen kann ich wirklich nur zurufen: Setzt euch auf allen Ebenen ein und verändert was! Und ja, ich habe die Hoffnung nicht mehr gehabt. Das ist richtig. Aber es gibt ja auch Menschen, die die Hoffnung noch haben. Und denen wünsche ich, dass sie wirklich weiter für ihre Reformen eintreten. Vielleicht geht es ja. Es geht vielleicht anders, als ich mir das vorgestellt habe.
SWR Aktuell: Gibt es noch neue Dinge, die Ihnen bei den Altkatholiken gut gefallen?
Sturm: Ich glaube, dass viele Sachen, die wir hier in unserer Gemeinde machen, auch viele römisch-katholische Gemeinden machen. Da gibt es auch ganz viele Menschen, die ähnlich engagiert und aktiv dabei sind, wie das Leute hier sind. Aber ich würde mir für meine neue Kirche wünschen, dass wir noch bekannter werden. Denn eines ist klar und das finde ich dramatisch: Die vielen Menschen, die in der großen Schwesterkirche austreten, die kommen ja nicht alle bei uns Altkatholiken an, sondern die bleiben komplett auf der Strecke! Das macht mich sehr unruhig, weil ich glaube, dass sich dadurch auch die Gesellschaft verändert und Konflikte härter werden, wenn Kirche und Glauben gar keine Rolle mehr spielen.
SWR Aktuell: Es gibt ja auch Priesternachwuchs in Deutschland. Heute schon betreuen Priester in der katholischen Kirche häufig mehrere Gemeinden. Wie soll das in Zukunft werden?
Sturm: Ich glaube wirklich, Seelsorge braucht Nähe. Und natürlich kann ich Gemeinden auf dem Papier konstruieren, so dass am Ende 30.000 Menschen dazugehören. Aber das sind ja keine Gemeinden mehr, wo man als Seelsorgerin und Seelsorger noch Kontakt zu Menschen haben kann. Ich habe hier in Singen 326 Gemeindemitglieder. Da habe ich wirklich den Eindruck, ich kenne sie alle. Ein bisschen größer wäre auch gut. Aber es muss noch handelbar sein. Es reicht nicht, nur zu wissen: Die gehören irgendwie alle zu mir, aber ich habe überhaupt keinen Kontakt. Ich kriege nie mit: Wer ist krank? Wo sind auch Sorgen und Nöte, wo ist jemand vielleicht arbeitslos geworden? Wo weiß jemand jetzt gerade in dieser Situation überhaupt nicht mehr, wie er seine Gasrechnung bezahlen soll? Da kriege ich hier schon mehr mit, weil mir das die Menschen auch erzählen und ich mit ihnen unmittelbar ins Gespräch kommen kann. Ich glaube, das ist viel wert.
SWR Aktuell: Sie haben 326 Gemeindemitglieder – ist das nicht ideal?
Sturm: Also ich langweile mich nicht. Meine Tage sind gut gefüllt. Auch mit 326 Gemeindemitgliedern kann man gut seine Zeit füllen.
SWR Aktuell: Sie haben in Ihrem Buch bekannt, als Priester den Zölibat gebrochen zu haben. Wie erleben Sie denn Ihre neue Freiheit – auch privat?
Sturm: Ich genieße es sehr und bin auch sehr glücklich. Mehr sage ich jetzt aber nicht.
SWR Aktuell: Was fiel Ihnen besonders schwer, als sie die katholische Kirche verließen, um sich ein neues Leben aufzubauen?
Sturm: Es ist natürlich schon eine Veränderung. Aber auch als Generalvikar war ich nie ganz entrückt aus der Welt. Es geht ja nicht nur um Beziehungen, sondern es geht generell darum, wie man in der Welt verwurzelt war und ist. Das war mir immer wichtig. Es ist schon eine große Veränderungen, aber es ist auch nicht so, dass ich denke, es ist alles anders.
SWR Aktuell: Gab es Momente, in denen Sie Ihre Entscheidung bereut haben?
Sturm: Nein, die gab es nicht. Was mich manchmal traurig stimmt, ist, dass es Kontakte gibt, die abgebrochen sind. Das tut mir leid und das bedauere ich wirklich sehr, weil ich Menschen mit meinem Schritt so vor den Kopf gestoßen habe, dass sie wohl keine Ebene mehr sehen, auf der wir miteinander sprechen können. Das finde ich schade. Aber es ist nicht so, dass ich meinen Schritt irgendwie bereue. Das kann ich überhaupt nicht sagen.
SWR Aktuell: Sie haben nach Ihrem Rücktritt das Buch "Ich muss raus aus dieser Kirche" veröffentlicht. Es ist ein Bestseller. Welche Reaktionen gab es darauf?
Sturm: Ich bin mit dem Erfolg des Buchs ziemlich überrascht worden und dann auch mit der Fülle an E-Mails, Briefen und Anrufen. Der Grundtenor der meisten Reaktionen war eine respektvolle Zustimmung. Viele Menschen, die sich gemeldet haben, sind selbst sehr engagiert in der Kirche und haben mir ihre eigene Situation und ihr Ringen mit Kirche geschildert. Daneben haben sich Partnerinnen von Priestern gemeldet und mir von ihrer sehr oft leidvoll erlebten Situation berichtet. Und dann gab es Priester und andere kirchliche Mitarbeitende, die innerlich ausgebrannt sind durch die Kämpfe, die sie teilweise seit Jahrzehnten führen und einfach mal reden wollten. Ich habe den Eindruck, dass mein Buch vielen Menschen eine Stimme gegeben hat.